DDR-Wehrlager König der kasernierten Herzen
Granaten werfen, marschieren, schießen: Spaß hatten die Neuntklässler in den vormilitärischen Ausbildungscamps der DDR nicht zu erwarten. Manchmal aber doch. Marko Schubert und seinen Kameraden gelang es, sich dem Drill zu entziehen - ausgerechnet mit den Mitteln des Klassenfeindes: Baseball.
Obwohl ich nach 1990 in einem grenzenlosen Reisewahn in unzähligen Ländern meine Ost-Berliner Spuren hinterlassen hatte, setzte ich keinen Fuß in die USA. Sie war der Klassenfeind Nummer eins, die imperialistische, ausbeutende Großmacht, das Böse. Sie hatten es mir jahrelang in die Birne gehämmert: DDR gut, UdSSR sehr gut, BRD böse, USA sehr böse. Vor Jimmy Carter und Ronald Reagan mussten wir ständig auf der Hut sein und uns natürlich auch, wie die stolzen Vietnamesen, verteidigen können! In dieses Land reisen? Freiwillig? Niemals.
Mein neuer Job nahm darauf keine Rücksicht. Er sollte mich nach New York führen. Und San Francisco. Lustlos und widerwillig packte ich im Frühjahr 2007 meine Sachen. Für mich hatte die Reise nur einen positiven Aspekt: In Kalifornien würde ich Matze wiedersehen, meinen guten Freund aus alten DDR-Tagen. Der "Hund" hatte komplett die politischen Seiten gewechselt und wohnte jetzt in San Diego. Unwillkürlich musste ich an meine Schulzeit denken.
Frühsommer 1987, GST-Lager, neunte Klasse. Es war nicht die erste vormilitärische Ausbildung meines Lebens: Als Kind hatte ich bereits an diversen Pioniermanövern unter dem Motto "Marsch der Bewährung" teilgenommen. Mit Karte und Kompass waren wir einzeln, in 20-minütigem Abstand in den Wald bei Hirschgarten geschickt worden. Der erste Befehl war meist ein Eilmarsch. An weiteren Stationen sollten wir schießen, Erste Hilfe leisten, hangeln, "Handgranaten" werfen und Karten einnorden. Am Ziel gab es Tee und Soljanka aus der Gulaschkanone, am Nachmittag Abzeichen und Urkunden auf dem Manöverball. Die sportlich-spielerischen Geländeübungen vor Augen freuten wir uns auf das zweiwöchige Trainingscamp der Gesellschaft für Sport und Technik - kurz GST.
Wie Nahkämpfer einer Eliteeinheit
Wir freuten uns vor allem auf diese Zeit, weil nur wir Jungs in dieses Camp fahren durften, während die Mädchen zur gleichen Zeit in der Schule an langweiligen Sanitätskursen teilnehmen mussten. Diejenigen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mit ins GST-Lager fuhren, galten als die allergrößten Weicheier und wurden sogar von den Mädels fertiggemacht. Die "Harten" aber wurden am Dienstag vor der Reise im Schulkeller eingekleidet.
Als wir uns am Samstag am Ostbahnhof trafen, fühlten wir uns alle wie Nahkämpfer einer Eliteeinheit: In solchen geilen Armeeklamotten hatten wir uns noch nie gesehen. Unser Ausbildungslager war knapp anderthalb Stunden von Berlin entfernt. Dort trafen sich die Jungs aller neunten Klassen Berlins und wurden auf verschiedene Baracken verteilt. Wir bekamen in unsere Hundertschaft noch Konkurrenten von der Rosa-Luxemburg-Oberschule - und die Waschlappen aus der Musikschule "Hanns Eisler".
Unser vorgesetzter Unteroffizier war ein molliger Kerl aus Sachsen mit einem rosigen Gesicht. Während er uns die ersten Tage noch mehrmals 20 Strafliegestütze und lange Waldläufe machen ließ, lockerte sich seine Haltung ziemlich schnell. Er hatte auch wenig Stress mit uns. Im Lager munkelte man, eine andere Klasse hätte das "Horst-Wessel-Lied" gesungen und ihren Unteroffizier krankenhausreif geschlagen. Sie habe daraufhin nach Hause fahren müssen. Wir dagegen waren artig und gehorsam.
Bunkerkönig!
Vielleicht aber war unser NVA-Soldat auch einfach nur faul und hatte keine Lust auf zu viel Sport. Schließlich musste er überall mitlaufen, was ihm sichtlich keinen Spaß bereitete. In den Pausen rauchte er drei Kippen in einer Zeit, die bei anderen nur für eine reichte. Obwohl er aus Sachsen kam, lag ihm das Schikanieren Berliner Jungs glücklicherweise nicht am Herzen. Er war anständig und fair.
Wie viele meiner Kameraden hatte auch ich kurz vor dem Lager den Film "Gesprengte Ketten" mit Steve McQueen in der ARD gesehen und aus Begeisterung ein darin vorkommendes Utensil mit ins Camp genommen - einen Ball. Im Film war es ein Baseball, mit dem Captain Virgil Hilts, der Bunker-King, stundenlang gegen die dortigen Wände warf. Meiner war nur ein fusseliger grauer DDR-Tennisball. Ich schleppte ihn überall mit hin. Auf die Märsche, die Waldläufe, die Appelle. Ich spielte fast immer damit herum.
Während einer Pause im Wald kam Bergi mit einem ziemlich dicken Ast bewaffnet zu mir und bat mich, den Ball zu werfen. Mit ungeheurer Wucht hämmerte er diesen 60 Meter weit ins Gehölz. Natürlich dauerte es nicht lange, bis auch andere gegen die Kugel dreschen wollten. Doch Bergi nutzte sein vorläufiges Monopol und verlieh seinen Schläger nur an zwei Leute, bevor er wieder an der Reihe war. Ich war sowieso der Bunkerkönig; ich besaß den Ball!
Der Uffz auf der Wiese
Wir begannen, amerikanisches Baseball zu spielen. Da keiner von uns die Regeln kannte, übernahmen wir einfach die des Brennballs aus dem Sportunterricht. Jeweils ein Team musste den Ball schlagen und rennen und das andere besetzte vier Ecken und den Rest der Spielfläche, um den Ball so schnell wie möglich aufzusammeln und dem Fänger zuzuwerfen. Schaffte es ein Schläger, während dieser Zeit einmal komplett ums Feld zu rennen, bekam er einen Punkt. War der Ball schon beim Fänger, bevor er das Ziel oder eine der Ecken erreicht hatte, war er ausgeschieden. Nach einer Runde tauschten die Teams die Rollen. Bald spielten wir in jeder Pause.
Unser Uffz lag zunächst auf einer Wiese, rauchte gemütlich und schaute sich das wilde Treiben an. Und wir hatten einen Mordsspaß. Schnell gab es richtige Cracks und Spezialisten. Die einen wuchteten den Ball hoch, weit oder äußerst präzise in eine Ecke des Waldes. Andere wiederum sprinteten dem Geschoss geschickt hinterher und schleuderten dieses mit enormer Wurfkraft genau in die Hände ihres Fängers. Der hatte sich bereits einen riesigen Handschuh gebastelt. Ich war in beidem nicht besonders gut, aber ich besaß den Ball!
Bald hatte jeder einen eigenen Schläger, und an den folgenden Abenden schnitzte, feilte und polierte jeder an seinem Holzklotz herum. Viele der Keulen sahen nach einer Woche so aus, wie wir uns echte Baseball-Schläger vorstellten. Bereits am zweiten Tag hielt es unser Unteroffizier nicht mehr auf seiner Wiese aus - er wollte mitspielen. Wahrscheinlich war es ein großes Glück, dass er bereits beim zweiten Versuch den Ball so gut traf, dass er ihn unerreichbar im Wald versenkte und in lockerem Laufschritt grinsend seinen ersten Punkt erzielte.
Zu Tränen gerührt
Ab diesem Tag machten wir außer den offiziellen Sportwettkämpfen und den täglichen gemeinsamen Appellen nichts anderes mehr, als Baseball zu spielen. Wir fanden mitten im Wald eine Lichtung, wo wir keine anderen Gruppen vermuteten, und bauten ein richtiges Feld mit Eckfahnen und Markierungslinien. Mittlerweile hatte jeder schon seine Macken entwickelt, wie er das Käppi trug, den Schläger schwang oder welche coolen Sprüche er vor dem Schlag von sich gab.
Mitten im sozialistischen Bruderstaaten-Wald der DDR übten wir ein durch und durch US-amerikanisches Spiel. Wir genossen die unglaubliche Freiheit außerhalb unserer umzäunten Kaserne.
Aus irgendeinem Grund waren wir am vorletzten Lagertag nicht im Wald gewesen. Alle wirkten ziemlich unausgeglichen und gereizt. Irgendwann fragten mich einige Jungs, ob wir nicht auf ein paar Bälle auf den hiesigen Sportplatz, mitten im Lager, gehen könnten. Schnell sprach sich unser Vorhaben herum, und 20 Leute packten ihre Schläger.
Auf dem Platz war meist ziemlich viel los. Fußball natürlich. Doch wir hatten Glück - die Fläche war frei, und schnell markierten wir die Ecken mit Klamotten und wählten zwei Teams. Anderthalb Wochen hatten wir nun schon trainiert. Das Schlagen, Rennen, Werfen und Fangen sah professionell aus - die Sprüche und Käppis saßen. Ich war im Fängerteam und konzentrierte mich, wie meine Mitspieler, besessen auf das Spiel. So bemerkte ich auch nicht, dass nach und nach immer mehr Jungs aus den Hundertschaften an den Platz gekommen waren und uns neugierig zusahen. Nach einem phantastischen, unerreichbaren Schlag von Bergi ertönte aus 300 Kehlen ein riesiger Jubel.
Mir standen vor Rührung Tränen in den Augen.
Wir waren Helden!
Kurz darauf erklärten Offiziere der NVA das Spiel für beendet. Wir aber waren für einen Moment die Baseball spielenden Helden des Lagers gewesen. Wir hatten die kasernierten Herzen erobert! Jeden Tag waren wir zu großer Kameradschaft ermahnt worden - unsere Ausbilder hatten ihr Ziel erreicht. Kein einziger der 20 Baseballstars - nicht mal unser Gruppenführer Lars - hätte verraten, dass wir hier im Camp zwei Wochen lang nichts anderes gemacht hatten. Mit meinem Ball.
April, 2007. Vor dem Terminal in Los Angeles nahm Matze mich freudestrahlend in die Arme. Wir gingen zu seinem monströsen, schwarzen Truck, in den locker acht Personen gepasst hätten, und fuhren die Küstenstraße entlang in Richtung San Diego. Eine angenehme Meeresbrise wehte über den blauen Pazifik, und wie bestellt lief Nirvana im Radio. Mein Freund deutete auf das Handschuhfach. Folgsam drückte ich auf den Knopf. Matze weiß vieles von mir, auch dass ich ein riesiger Sportfan bin, doch die Geschichte aus dem GST-Lager in der neunten Klasse hatte ich ihm nie erzählt.
Im Handschuhfach lag ein Willkommensgeschenk: zwei Tickets für die Major League Baseball.
Zum Weiterlesen:
Mark Scheppert: "Der Mauergewinner oder ein Wessi des Ostens. 30 vergnügliche Geschichten aus dem Alltag der DDR." Books on Demand GmbH, Norderstedt 2009, 228 Seiten.