Erfindung der Disco Deutschlands erster Plattenprinz
Betrunken auf die Bühne, und schon ein Star: Vor 50 Jahren schnappte sich Klaus Quirini in einem Aachener Tanzlokal das Mikro und wurde einer der weltweit ersten DJs. Mit Hits und irren Sprüchen heizte er der Jugend ein. Bald drängten Promis in die Disco - nur Udo Lindenberg musste draußen bleiben.
"Meine Damen und Herren, wir krempeln die Hosenbeine hoch und lassen Wasser in den Saal, denn 'Ein Schiff wird kommen' mit Lale Andersen!" Die Besucher des Scotch Club in Aachen trauten ihren Augen und Ohren nicht. Gerade hatte eine 19-jährige Bohnenstange mit dicker Brille und Sturmfrisur die Bühne geentert, das Mikro in die Hand genommen - und mit diesem gewagten Spruch den nächsten Song angekündigt. Der junge Mann hieß Klaus Quirini und war Volontär bei einer Aachener Lokalzeitung. Eigentlich sollte er nur über den Abend zu berichten. Doch was er sah, war einfach nicht auszuhalten.
Wir schreiben das Jahr 1959. Um sich zu amüsieren, rockte die Jugend auf Tanzabenden mit Live-Band-Beschallung ab. Diese Klientel wollte auch Franzkarl Schwendinger, der Betreiber des Scotch Club, in sein Speiselokal locken. Doch das Geschäft lief schlecht, Schwendingers Unternehmen stand kurz vor dem finanziellen Aus. Bands zu engagieren - undenkbar, dafür fehlte schlicht das Geld.
Da kam dem Gastronom eine verwegene Idee: Statt einer ganzen Band, stellte er einen einzigen Mann hin, der populäre Schallplatten auflegen sollte. Das einzige Problem: Musik aus der Konserve galt damals als "tote Musik" - und der Kölner Opernsänger, den Schwendinger für den ersten Abend eingestellt hatte, war nicht gerade das richtige Temperament, um der Musik von der Scheibe Leben einzuhauchen. Schweigend legte er Schallplatte für Schallplatte auf den Teller und ödete das Publikum an.
Betrunken auf die Bühne - und schon ein Star
Auftritt Jungjournalist Quirini: Der hatte an diesem Abend das erste Mal Whiskey getrunken - und beschwerte sich lauthals bei Schwendinger. "Wenn du es besser kannst", soll der verzweifelte Lokalbetreiber gesagt haben, "versuch es". Mit vom Alkohol gelockerter Zunge und ein paar verrückten Tanzschritten heizte Klaus Quirini der Menge ein - und schrieb Geschichte. Er wurde der einer der ersten Discjockeys der Welt, der Scotch Club die erste Discothek. Wobei es diese Begriffe damals noch gar nicht gab. So erhielt das Etablissement erstmal den Beinamen "Jockey Tanz Club". Der Duden nahm den Begriff "Discothek" erst Mitte der Sechziger auf.
Klaus nannte sich fortan "Heinrich" nach Trude Herrs Hit "Oh, Heinrich, ich hab' nur dich" - und der Song wurde zu seiner Erkennungsmelodie. Nacht für Nacht stand DJ Heinrich im Scotch Club hinter dem Pult mit den Plattenspielern. Er tanzte zu jedem Song mit, brachte zu jedem Titel, den er auflegte, einen schrägen Spruch und legte immer die neuesten Trendtänze aufs Parkett. Ob Charleston, Twist oder Sirtaki - im Scotch Club wurden sie zuerst getanzt. Seine rasanten Charleston-Einlagen brachten ihm den Spitznamen "Gummi-Mensch" ein, weil er seine Beine so schnell bewegen konnte wie kein Zweiter in Aachen.
Udo Lindenberg muss draußen bleiben
Bald schon wurde der Scotch Club weit über die Stadtgrenzen hinaus populär. Bands wie die Rattles und Sänger wie Udo Jürgens oder Christian Anders wurden von DJ Heinrich eingeladen und begannen hier ihre Karrieren, während andere Stars draußen bleiben mussten. Sowohl Udo Lindenberg als auch Frank Elstner kamen nicht rein - weil die Krawatte fehlte. Denn so wild sich der DJ auch gebärden mochte - Anfang der Sechziger galt im Scotch Club Anzugpflicht für die Herren, die Damen mussten Kleider tragen.
Das tat dem Erfolg keinen Abbruch. Die Geburtsstätte des Disco-Kults wurde zum Wallfahrtsort - und das neue Geschäftskonzept zur Blaupause für eine neue Art von Partybewegung. Gastronomen aus ganz Deutschland, Belgien und den Niederlanden kamen im Scotch Club vorbei, um das Konzept zu kopieren. Und als Ende der sechziger Jahre in Deutschland stationierte US-Soldaten die Disco langsam auch in Amerika populär machten, gab es in Aachen, der wahren Geburtsstadt des Nachtfiebers, bereits mehr als 40 Discos.
Zudem war mit dem verrückten Heinrich eine neue Art von Traumberuf geboren. Hunderte Jugendliche pfiffen auf eine Ausbildung und wollten lieber Plattenreiter werden - mit mehr oder weniger großem Erfolg. Bereits in den siebziger Jahren kritisierte das "Hamburger Abendblatt" den neuen Berufsstand. Viele der vermeintlichen Könige der Nacht könnten "gerade noch die Platten auf den Teller legen", krittelte die Tageszeitung. Und weiter: "Sie kommen aus allen Schichten, angelockt von der Chance, ohne langwierige Vorarbeit anerkannter Mittelpunkt zu sein. Vor allem für Mädchen. Und die Illusion gaukelt ihnen vor, nachts mit Vergnügen Geld zu verdienen und dafür auch noch tagsüber Faulenzen zu können." Und ganz daneben lag das Blatt damit ja nicht: Auch wenn der Scotch Club von einst längst einem Bekleidungsgeschäft gewichen ist und die Großraumdiscos und Rockschuppen von heute nicht mehr viel mit den ersten Discos zu tun haben - manche Dinge ändern sich nie.
Anm. d. Red.: In einer früheren Version des Artikels stand zu lesen, Klaus Quirini sei der Sohn des ehemaligen Bonner Richters Helmut Quirini. Dem ist nicht so. Die Passage wurde entfernt.