Holocaust-Überlebender Walter Frankenstein "Ich habe keine Angst vor Nazis"
Im Untergrund entkam Walter Frankenstein, Sohn Deutscher jüdischen Glaubens, den Nazis - mit seiner Frau und zwei Kindern. Heute ist er 93 und spricht mit Schülern über Widerstand und den Wert der Demokratie. Dies ist seine Geschichte.
Ich habe in meinem Leben nie Angst gehabt. Ich habe keine Angst vor der AfD. Ich will gegen sie vorgehen. Ich hatte keine Angst vor den Nationalsozialisten. Denn Angst riecht man. Und mit Angst hätte ich im Untergrund wohl nicht überlebt.
1924 wurde ich in Flatow geboren, einer kleinen Stadt mit nur 7000 Einwohnern, von denen jeder wusste, dass ich ein Sohn jüdischer Eltern bin. Dass ich keine Angst habe, verdanke ich einem Freund meiner Familie. Als Hitler an die Macht kam, hat er zu meiner Mutter gesagt: "Ich will Ihrem Sohn etwas beibringen, damit er nie wieder Angst zu haben braucht."
Er hat mir dann Jiu-Jitsu gezeigt, ein altes japanisches Verteidigungssystem. Acht Monate lang hat er mich beschimpft, auch mal ein bisschen geschlagen, aber so, dass es nicht weh tat. Alles, damit ich Selbstbeherrschung lerne. Denn wenn man Selbstbeherrschung gelernt hat, dann hat man auch keine Angst mehr, sondern denkt daran, wie man sich verteidigen kann. Danach hat er mir noch mal ein halbes Jahr lang die Schläge und Griffe und das richtige Fallen beigebracht. Seitdem habe ich nie mehr in meinem Leben Angst gehabt! Das hat mir oft das Leben gerettet.
Weil meine Eltern jüdisch waren, wurde mir ab 1936 verboten, die Volksschule zu besuchen. Mein Vater war bereits einige Jahre vorher gestorben, und so brachte mich ein Onkel im Auerbach'schen Waisenhaus in Berlin unter. In diesem Heim für jüdische Kinder lernte ich auch meine Frau Leonie kennen. Wir heirateten, da war ich gerade mal volljährig. 68 Jahre lang waren Leonie und ich zusammen - bis zu ihrem Tod.
Für Leonie und mich stand fest: Nicht mit uns!
Im Oktober 1941 sollte mein Cousin von Berlin ins Ghetto Litzmannstadt deportiert werden. Unsere ganze Familie ist noch mal zu ihm, um Abschied zu nehmen. Leonie und ich waren dabei, als er packte. Nur drei oder vier Kilo durfte man mitnehmen. Mein Cousin hat überlegt: Sollte er zwei Mäntel übereinander anziehen? Und mehrere warme Hosen? Man glaubte ja damals, man würde nach Litzmannstadt gebracht, um zu arbeiten. Dabei wurden die Menschen von dort in Vernichtungslager deportiert.
Als wir von ihm weggingen, stand für Leonie und mich fest: Nicht mit uns! Und das ist geblieben. Wir leisteten in jeder Art passiven Widerstand. Auf den Parkbänken waren zum Beispiel Schilder, auf denen stand: "Nicht für Juden". Da haben wir einfach unseren Judenstern abgemacht und uns draufgesetzt.
Oder wir sind in Berlin in einen Vergnügungspark gegangen, Ende 1941. Da gab es Buden, wo man Papierblumen in kleinen Porzellanvasen schießen und gewinnen konnte. Wir waren frisch verliebt, ich wollte meine Frau beeindrucken und sagte, weil ich ein guter Schütze war: "Welche Blumen willst du haben?" Sie lächelte: "Na wenn's dir glückt, dann die da." Und zeigte auf eine.
Ich schoss ihr eine nach der anderen. Plötzlich merkten wir aber, dass sich um uns ein Ring von Wehrmachtsurlaubern gebildet hatte. Uns wurde mulmig. Ein Feldwebel kam zu mir und sagte: "Warum bist du nicht beim Militär?" Ich war ja im militärpflichtigen Alter. Das war ein Riesenproblem in der Zeit. Ich keuchte schnell und krächzte: "Die Lunge. Ich habe eine Lungenkrankheit. Daher bin ich freigestellt." Und wir machten uns aus dem Staub.
Schnell reagieren, das war überlebenswichtig
All das haben wir gemacht, aus reinem Protest. Und wir entschlossen uns, in den Untergrund zu gehen, da war unser Sohn erst wenige Wochen alt. Jahrelang haben wir illegal in Berlin gehaust und in der Zeit sogar noch ein zweites Kind bekommen. Eine Weile versteckte ich mich während des Krieges im Grunewald, meine Frau war gerade bei ihrer Familie in Leipzig, in einem von mir selbst gebauten Bunker.
Weil der Zaun mit Efeu überwachsen war, konnte ich die Straße nicht sehen und lief eines Tages direkt in die Arme von zwei Gestapo-Männern. "Ach, ihr sucht wohl den, der nach da hinten weggelaufen ist?", rief ich ohne nachzudenken. "Ja, genau", antworteten die beiden. Und ich sagte: "Dann lauft ihr da und ich hier lang, dann kriegen wir ihn noch." Und die Gestapoleute sind dann da runtergelaufen, ich in die andere Richtung über ein paar Zäune, weg war ich.
Das habe ich durch das Jiu-Jitsu gelernt: schnell zu reagieren - auch in gefährlichen Situationen. Wir haben auch überlebt, weil einige christliche Deutsche jüdischen Menschen wie uns geholfen haben. Aber das haben leider viel zu wenige getan!
Bloß raus aus Deutschland
Auch nach Kriegsende spukte Hitler noch in den Köpfen der Deutschen. Wenige Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945 fuhren Leonie und ich in Berlin U-Bahn. Der Zug war voll. Wir stiegen ein. An unseren Jacken hatten wir kleine blau-weiße Fähnchen angebracht. Wir wollten uns unterscheiden und nicht zu diesem deutschen Volk gehören. Da kriegten wir mit, wie eine Frau verächtlich über uns sagte: "Na, jetzt machen sich die Ausländer ja wieder breit." Aber es dauerte nicht eine halbe Sekunde, da hatte sie schon den Regenschirm meiner Frau auf dem Kopf.
Wir wollten nur noch weg aus Deutschland - und zwar nach Palästina. Aber das war schwieriger als gedacht, da die britische Mandatsmacht nur wenigen jüdischen Menschen die Einwanderung erlaubte. Wir mussten uns daher trennen: Leonie konnte mit den Kindern Ende 1945 legal einwandern. Ich kam erst fast anderthalb Jahre später dort an, nachdem die Briten mich zwischenzeitlich sogar wegen illegaler Einwanderung nach Palästina auf Zypern inhaftiert hatten. Später sind wir dann weiter nach Schweden gezogen.
Nach Deutschland wollten wir nicht zurück. Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre waren wir dann mal hier zu Besuch und stiegen in einem Wirtshaus am Rhein ab. Der Wirt setzte sich zu uns, es entspann sich ein Gespräch über Steuern. Da sagte er: "Zur Hitlerzeit war es doch besser. Da war Ordnung." - "Ja", erwiderte ich, "da hat er auch mit sehr guter Ordnung alle Juden umgebracht. Und wissen Sie was, machen Sie mir die Rechnung fertig, wir fahren weiter." Da sind wir dort weg. So ähnliche Sachen sind uns ab und zu passiert.
Ich meide alle Menschen, die in meiner Generation gelebt haben. Ich ziehe eine Grenze: Die, die nach dem 1. Januar 1933 geboren sind - das ist das neue Deutschland. Die sind bei Kriegsende zwölf Jahre alt gewesen, sie haben nichts anstellen können. Man darf nie die folgende Generation für das verantwortlich machen, was die Generation vor ihnen angestellt hat. Mit den Deutschen, die vor dem 1. Januar 1933 geboren sind - mit denen will ich dagegen nichts zu tun haben.
Die Kinder können mich alles fragen
Bei der Bundestagswahl habe ich von mittags bis ein Uhr nachts vor dem Fernseher gesessen. Und es ist doch besser gelaufen, als ich dachte. Ich hatte geschätzt, dass die AfD 20 Prozent der Stimmen bekommt, aber es waren nicht mal 13 Prozent. Die jetzige Zeit erinnert mich allerdings an 1932/1933, weil sich auch heute die demokratischen Parteien nicht einigen können, wie sie die undemokratische Partei AfD bekämpfen wollen.
Einige Rechtsradikale müssten meiner Meinung nach längst wegen Volksverhetzung im Gefängnis sitzen. Wie konnten zum Beispiel die Ermittlungen gegen die Person eingestellt werden, die bei einer Pegida-Kundgebung einen Galgen mit dem Schild "Reserviert Angela 'Mutti' Merkel" gezeigt hat? Ich verstehe das nicht.
Dass ich den Holocaust überlebt habe, diese Pflicht gegenüber denjenigen, die mir geholfen haben, die treibt mich auch jetzt mit 93 Jahren noch dazu an, weiterzumachen und mit jungen Leuten zu sprechen. Dafür komme ich von Schweden immer wieder nach Deutschland. Ich gehe in Schulen, nicht um Vorträge zu halten, sondern um mit den Kindern zu sprechen.
Sie können mich alles fragen. Ich sage ihnen: Ihr seid Individualisten, ihr dürft nicht an Führer glauben, wie Hitler. Ihr müsst selbst denken. Und ich vergleiche ein Volk immer mit einem Baum. Der Stamm ist die Gegenwart. Die Krone ist die Zukunft. Ihr müsst auch die schlechten Wurzeln kennen, damit ihr nicht das Gift in den Stamm zieht. Da müsst ihr abschirmen. Stützt euch nur auf die guten Wurzeln. Und helft allen Menschen, die in Not sind!
Ich habe die Verpflichtung, die kommenden Generationen davor zu warnen, was passieren kann, wenn man nicht wählen geht, wenn man gleichgültig wählen geht, wenn man sich nicht für Politik interessiert. Wenn man auf die demokratischen Parteien schimpft, ohne eine Idee zu haben, wie man es besser machen kann - dagegen kämpfe ich an. Und das hält mich jung.