Fahrzeug-Flop OctoAuto Über diese acht wurde nur gelacht
Er wollte das Automobil revolutionieren und schuf eines der bizarrsten Fahrzeuge des 20. Jahrhunderts. 1911 präsentierte Milton Reeves das OctoAuto. Mit acht Rädern. Tatsächlich war kein anderer Wagen dieser Zeit so schnell und bequem - und so ungeliebt.
Im Dezember 1911 erschien im einflussreichen Intellektuellenblatt "Fra Magazine" eine zweiseitige Textanzeige. Verfasst war sie vom damals populären Schriftsteller und Essayist Elbert Hubbart, selbst häufig Autor des Magazins. Er lobte darin das neueste Automobil der Reeves Pulley Company als beispiellos bequem, leistungsfähig und verschleißarm. Es war die schriftstellerisch aufgehübschte Form der Werbeclaims der Reeves Company.
Und außergewöhnlich war das Gefährt ja wirklich. Wo immer Milton Reeves mit seinem OctoAuto auftauchte, liefen die Menschen zusammen und staunten. Testfahrten mit Journalisten führten zuverlässig zu euphorischen Berichten. Es war ein Auto, wie man es wirklich noch nie zuvor gesehen hatte. Ein Wagen, für den einer von Amerikas führenden Schreibern quasi mit seinem Namen bürgte. Gebaut von einem Mann, der damals zu den berühmtesten Auto-Entwicklern der USA gehörte. Was sollte nun noch schiefgehen?
Alles. Reeves OctoAuto erregte jede Menge Aufmerksamkeit, mehr aber auch nicht.
Komfort und Leistung, Ruhm und Reichtum
Dabei hatte Milton Othella Reeves durchaus die Voraussetzungen zur Auto-Legende: Reeves war Spross einer Industriellen-Dynastie, die Fabriken und Sägewerke mit Riemenantrieben für ihre Maschinen ausstattete. Er gehörte auch zu den größten und erfolgreichsten Herstellern von Landmaschinen und schwerem Straßengerät. Das Geschäft der Reeves-Firmen boomte. Ab 1888 versuchte Milton, sein Geschäftsfeld auch auf den Automobilbau auszuweiten.
Bis 1896 baute er mindestens vier verschiedene Modelle für bis zu sieben Passagiere. Sein erster Wagen - irreführenderweise "Motorcycle" genannt - war das vierte oder fünfte überhaupt in den Staaten gebaute Auto und seiner Zeit voraus.
Alle frühen Automobile hatten nur einen Gang, die maximal mögliche Drehzahl bestimmte so auch die Höchstgeschwindigkeit - ein Ohren betäubendes Getöse. Reeves aber hatte - ursprünglich für Sägemühlenantriebe - ein Getriebe erfunden, das steigende Geschwindigkeit bei verminderter Drehzahl möglich machte. Eine "Variomatik" würde man heute sagen, bei der der Antriebsriemen, der die Kraft vom Motor zu den Rädern überträgt, über ein kegelförmiges Rad läuft: Je weiter außen, desto größer die Übersetzung - eine Art stufenlose "Gangschaltung". Das genial einfache Prinzip wird noch heute in industriellen Antriebsmaschinen, aber beispielsweise auch in Rollern eingesetzt.
Als Reeves, selbst genervt vom Lärm der neuen Benzinmotoren, auch noch den Schalldämpfer erfand und 1897 patentieren ließ, hatte er den Grundstein für seinen eigenen Ruhm und Reichtum gelegt. Milton Reeves stand nun quasi synonym für mehr Komfort und Performance. Dass es daran großen Bedarf gab, stand außer Frage.
Ein wildes Geschaukel
Denn die automobile Fortbewegung war über die Jahre zwar zuverlässiger geworden, aber keinen Deut bequemer. Der Zustand der Straßen war meist erbärmlich, die Vehikel gaben jedes Schlagloch an die Wirbelsäule der Passagiere weiter. Noch immer setzte man vor allem auf ungedämpfte Stahlfedern, um die Fahrt erträglicher zu machen: Auf jedes größere Schlagloch folgte ein mehr oder minder brachiales Auswippen. Das führte oft zu Unfällen, wenn Wagen regelrecht von der Straße sprangen. Zudem waren Autos groß und schwer, die Kombination all dieser Dinge erhöhte auch den Verschleiß. Milton Reeves beschloss, das alles zu ändern.
Seine Idee schien einleuchtend. 1867 hatte George Pullman den Schlafwagen erfunden, ein Zugabteil, das er auf eine doppelte Anzahl von Rädern stellte. So verteilte er die Belastungen und reduzierte Vibrationen und Schläge. Genau das, fand Milton Reeves, brauchte man auch im Autobau.
Er kaufte eine luxuriöse Overland-Limousine, Modell 1910. Vorn und hinten ließ er zusätzliche Achsen einbauen, was die Gesamtlänge des Wagens auf rund acht Meter streckte. Um dieses Ungetüm überhaupt lenkbar zu machen - den ersten Wagen mit Servolenkung brachte Chrysler erst 1951 -, waren die ersten drei Achsen beweglich. Achse eins lenkte voll ein, Achse zwei etwas weniger, Achse drei dafür in Gegenrichtung: Der Wagen fuhr beim Lenken also quasi um den eigenen Mittelpunkt herum.
So teuer wie vier Ford T
Es funktionierte und beeindruckte - allerdings eher Fachleute, nicht aber potentielle Kunden: Das OctoAuto sah schon im Stand seltsam aus, geschweige denn in Bewegung. Reeves wartete vergeblich auf Bestellungen. Im Mai 1911 ging er mit dem OctoAuto persönlich auf Promotion-Fahrt. In Indianapolis besuchte er das berühmte Indy-500-Rennen und sorgte für Gesprächsstoff. Doch alles war umsonst. Selbst die teure Werbekampagne mit Hubbart verpuffte.
Es gab auch rationale Gründe dafür. Reeves OctoAuto war nicht nur außergewöhnlich bequem, sondern auch exorbitant teuer. Für seinen Verkaufspreis von 3200 Dollar hätte man fast vier Ford Model T kaufen können - zugegebenermaßen das Billigauto seiner Zeit. Preis und Ausstattung machten das OctoAuto zu einem Luxuswagen. Die Luxuskunden aber wollten offenbar kein Auto, das so seltsam aussah, dass man Sinn und Zweck des Designs erklären musste. Das OctoAuto war der Freak im amerikanischen Fuhrpark.
Reeves besserte nach. Wenn es wirklich so war, dass man seinen Mehrachser nicht kaufen wollte, weil er als seltsam oder lächerlich empfunden wurde, musste man eben einen Kompromiss suchen. Die Vorzüge seiner Idee so weit wie möglich bewahren, und das Produkt ein bisschen weniger seltsam machen.
Das schlimmste Auto aller Zeiten
Schon 1912 präsentierte Reeves das SextoAuto - einen Dreiachser mit vier Hinterrädern. Reeves setzte auf sein Variospeed-Getriebe und ließ das Vehikel als Luxus-Traum ausstatten. Als sich ein erstes, auf dem OctoAuto basierendes Modell nicht verkaufte, ließ er nach wenigen Monaten eine zweite Version bauen, basierend auf einer Stutz-Limousine. Mit einem Preis von nun sogar 4500 Dollar wurde auch das SextoAuto zum Ladenhüter. Henry Fords Billigautos hoben derweil ab: Für einen Preis von mittlerweile nur noch knapp 500 Dollar stellte der Massenfertigungs-Pionier nun alle eineinhalb Stunden ein Auto her.
Reeves kapitulierte und kehrte zurück zum pragmatischen, aber profitablen Kerngeschäft. Der Verkauf von Motoren, Getrieben, der Reeves-Variomatik und KFZ- und Maschinenteilen boomte weiter. Reeves brachte die Autos anderer zum fahren, während seine eigenen floppten. Als Milton O. Reeves, der so spektakulär irregeleitete Autopionier, 1925 nach langer Krankheit starb, war er ein reicher, erfolgreicher Mann, der über hundert Patente hielt.
Und fast hundert Jahre nach seiner Vorstellung erntete schließlich auch das OctoAuto eigenen Ruhm, wenn auch von zweifelhafter Sorte: Das Magazin "Time" würdigte es mit Platz drei unter den schlimmsten Autos aller Zeiten. Eines der originellsten war es allemal.
Zum Weiterlesen:
Frank Patalong: "Der viktorianische Vibrator - Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik". Lübbe, Oktober 2012, 288 Seiten.
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