Genetisches Brustkrebsrisiko "Viele Frauen fühlen sich minderwertig und schuldig"
Jeden Tag stehen Frauen mit hohem Krebsrisiko vor einer ähnlich schweren Entscheidung wie Angelina Jolie. Nicht jede lässt sich die Brüste abnehmen. Die Brustkrebsexpertin Marion Kiechle erklärt im Interview, warum viele von ihnen von Schuldgefühlen geplagt werden.
ZUR PERSON

Prof. Marion Kiechle, 53, ist Direktorin der Frauenklinik am Klinikum rechts der Isar in München. Die Gynäkologin zählt zu Deutschlands führenden Onkologen und beschäftigt sich insbesondere mit erblichen Krebserkrankungen der Frau. Sie ist deutschlandweit die erste Ordinaria für Frauenheilkunde.
Marion Kiechle: Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Der Schritt von Frau Jolie ist für mich aber nachvollziehbar. Ich würde mir auf jeden Fall die Eierstöcke und die Eileiter vorsorglich entfernen lassen, um vor dem drohenden Eierstockkrebs geschützt zu sein, für den es keine Vorsorge gibt. Durch diesen Eingriff reduziert sich auch mein Brustkrebsrisiko. Dann würde ich wahrscheinlich eher dazu tendieren, am intensiven Früherkennungsprogramm teilzunehmen.
SPIEGEL ONLINE: Darf man als Arzt Frauen wirklich dazu raten, sich aus Vorsichtsgründen gesunde Organe entfernen zu lassen? Das widerspricht doch dem Grundsatz, Patienten niemals zu schaden.
Kiechle: Ja, das darf man und muss es in diesem Fall auch. Die vorbeugende Entfernung des noch gesunden Organs ist derzeit die einzige Möglichkeit, Frauen effektiv und nachhaltig vor dem Ausbruch der Krebserkrankung und dem Krebstod zu schützen. Wir wären keine guten Ärzte, wenn wir das unseren Frauen vorenthalten würden. Natürlich birgt jede Operation ein Risiko, aber eine derartige OP bedroht in der Regel nicht das Leben einer Frau.
SPIEGEL ONLINE: Frauen, die Mutationen in Hochrisikogenen wie BRCA 1 und BRCA2 tragen, sich aber gegen eine OP entscheiden, müssen weiter mit der Angst leben, eines Tages an Brustkrebs zu erkranken. Das ist eine psychisch große Belastung.
Kiechle: Die engmaschige Früherkennung ist ein wichtiger Schritt, den Frauen die Angst zu nehmen. Studien haben gezeigt, dass diese Maßnahme tatsächlich funktioniert: Die Brustkrebserkrankung wird in einem früheren Stadium entdeckt, im Vergleich zu Frauen aus Hochrisikofamilien, die sich nicht den Untersuchungen unterziehen. Man muss allerdings erst noch endgültig wissenschaftlich beweisen, dass man die Frauen durch die regelmäßigen Untersuchungen auch vor dem Krebstod bewahren kann. Wenn die Angst und die psychische Belastung sehr groß sind, sollten die Frauen unbedingt auch psychologisch unterstützt werden.
SPIEGEL ONLINE: War die Entscheidung Jolies, an die Öffentlichkeit zu gehen, Ihrer Meinung nach die richtige?
Kiechle: Für mich als Expertin und Ärztin ist das nichts Neues. Ich erlebe derartige Entscheidungen jeden Tag. Für die betroffenen Frauen kann es ein Trost sein, wenn sie sehen, dass auch berühmte und schöne Frauen vor solchen Problemen stehen können. Viele Frauen mit derartigen Genveränderungen fühlen sich minderwertig und schuldig - weil sie es ja auch an ihre Kinder weitergeben können. Ein solches Bekenntnis von Frau Jolie hilft ihnen vielleicht, auch von den Schuldgefühlen wegzukommen. Schließlich ist diese Genmutation eine angeborene Tatsache, für die man nichts kann. Schön ist es auch zu lesen, dass Jolies Lebenspartner sie dabei unterstützt, das würde ich mir für meine Patientinnen auch wünschen.
SPIEGEL ONLINE: Werden Frauen, die hierzulande vor der gleichen Entscheidung stehen, ausreichend gut beraten?
Kiechle: Ja, definitiv. In Deutschland sind wir in einer sehr guten Situation. Seit 1996 unterstützt die Deutsche Krebshilfe (DKH) die Versorgung von Brust- und Eierstockkrebsfamilien. Erstes Ziel war es, an fast allen deutschen Universitätsfrauenkliniken sogenannte Tumorrisikoberatungsstellen einzurichten. Ratsuchende können dort ihr individuelles Krebserkrankungsrisiko ermitteln.
Ergibt sich aus der Familienanamnese ein erhöhtes Risiko, wird der Frau ein Test auf die bekannten Brustkrebsgene angeboten. Wichtig ist dabei, dass man bereits davor ausführlich mit der Betroffenen über die notwendigen Konsequenzen spricht, die sich aus dem Test ergeben. Nur so kann sie eine autonome Entscheidung treffen. Ärzte können ihr und ihrer Familie sehr gut erläutern, was der Nachweis einer Genmutation bedeutet. Für die Einzelne selbst bedeutet es ein erhöhtes Krebserkrankungsrisiko und die Möglichkeit, dass sie die Mutation an die Kinder zu 50 Prozent weitergibt.
In den ersten Jahren hat die DKH die Tests bezahlt, inzwischen übernehmen das die Krankenkassen. Unterstützung und Informationen können Ratsuchende auch vom BRCA-Netzwerk erhalten, eine gemeinnützige Selbsthilfeorganisation für Frauen mit familiärem Brust- und Eierstockkrebs.
SPIEGEL ONLINE: Neben den Hochrisikogenen BRCA1 und BRCA2 gibt es inzwischen eine Reihe weiterer Gene, über die man das individuelle Brustkrebsrisiko einschätzen kann. Wie sinnvoll sind solche Tests bei der Prävention bisher wirklich?
Kiechle: In Deutschland gibt es ein international anerkanntes Netz von Wissenschaftlern, das Deutsche Konsortium für erblichen Brust- und Eierstockkrebs, das ebenfalls von der DKH gefördert wird und sich genau mit dieser Frage beschäftigt. Nicht jedes vermeintliche Brustkrebsgen geht tatsächlich mit einem hohen Brustkrebsrisiko einher. Das genau herauszufinden, ist noch Aufgabe der Forscher.
SPIEGEL ONLINE: Sollten die Medizin und die Politik nicht auch klare Grenzen solcher Gentests festlegen?
Kiechle: Dank der Forschung wird man das individuelle Krebserkrankungsrisiko einer Frau in Zukunft besser definieren können. Wahrscheinlich wird man so auch viele Menschen entlasten und sie vor unnötigen Vorsorgeuntersuchungen bewahren. Die Aufgabe von uns Ärzten gemeinsam mit der Politik ist es, darauf zu achten, dass jeder in seiner Entscheidung frei bleibt, ob er oder sie sich derartigen Tests unterziehen will.
VORBEUGENDE BRUSTAMPUTATION

Welche Gene beeinflussen das Krebsrisiko?
Wer sollte einen Gentest in Betracht ziehen?
Das Interview führte Cinthia Briseño