Volkskrankheit Zucker "Diabetes ist ein gesellschaftliches Problem"
Weltweit leiden immer mehr Menschen an Diabetes, auch in Deutschland steigt die Zahl seit Jahren. Neue Medikamente allein können das Problem nicht lösen. Experten schlagen Alarm. Manche fordern ein Eingreifen der Politik.
München - Der Name, den der Volksmund Diabetes gegeben hat, klingt harmlos: Zuckerkrankheit. Dabei ist das Leiden alles andere als ungefährlich und kann zudem schlimme Folgekrankheiten wie Nierenschäden oder Herzinfarkt verursachen. Jeden Tag erkranken statistisch gesehen rund 750 Menschen in Deutschland an Diabetes. Jede Stunde sterben drei Patienten an den Folgen der Krankheit.
Rund sechs Millionen Menschen in Deutschland haben einen Typ-2-Diabetes. Ein Drittel mehr als noch vor 15 Jahren. Und die Zahlen werden weiter steigen. Schätzungen zufolge könnten es 2035 weltweit 600 Millionen sein. "Diabetes ist eine Volkskrankheit", sagte Thomas Danne, Chefarzt am Kinder- und Jugendkrankenhaus auf der Bult in Hannover und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Diabetes-Hilfe.
Etwa 95 Prozent der Betroffenen leiden an Diabetes Typ 2, früher Altersdiabetes genannt. Typ 1 ist deutlich seltener, allerdings steigen die Zahlen auch hier. Zu den größten Risikofaktoren für Typ-2-Diabetes zählen Übergewicht, Bewegungsmangel und Stress. Neuere Daten zeigen, dass zudem Luftverschmutzung und Feinstaubbelastung Typ-2-Diabetes begünstigen können. Beim Welt-Diabetes-Tag am 14. November wollen Experten darüber aufklären, wie man gut mit der Krankheit leben kann.
Kein Mittel gegen Adipositas
Laut Matthias Tschöp, Diabetes-Forscher am Helmholtz-Zentrum München, ist vor allem die wachsende Zahl an stark übergewichtigen Menschen schuld an der Zunahme der Krankheit. "Das Problem bekommen wir einfach nicht in den Griff", sagt er. "Wir haben bis heute keine Medikamente gegen Fettleibigkeit", erklärt der Mediziner. Einzig chirurgische Eingriffe wie ein Magenbypass seien möglich.
Tschöp will deshalb Wirkstoffe entwickeln, die Fettleibigkeit und Diabetes gleichzeitig bekämpfen. "Wir brauchen Medikamente, die viel wirksamer sind als heute." Helfen sollen dabei die verschiedenen Arten von Fettgewebe im Körper. "Es gibt Fettzellen, die Fett nicht speichern, sondern verbrennen", sagt Tschöp. Der Mediziner und seine Kollegen vom Helmholtz-Zentrum untersuchen seit einiger Zeit genauer, wie sich das "gute" braune Fettgewebe vom "bösen" weißen Gewebe unterscheiden lässt. "Wir müssen es schaffen, weiße in braune Fettzellen umzuwandeln - also Zellen, die Kalorien speichern, umwandeln in Zellen, die Kalorien verbrennen." Wie das genau funktioniert, wissen die Wissenschaftler aber noch nicht.
Wichtig ist Tschöp, Diabetes-Patienten nicht abzustempeln nach dem Motto: "Der ist ja selber schuld." Und er betont: "Es gibt genetische Gründe für Fettleibigkeit, viele Betroffene haben mit Willen allein überhaupt keine Chance." Manch ein Übergewichtiger bekomme nie Diabetes, andere litten auch ohne zu viel Gewicht an der Krankheit. "Das Leben ist da nicht fair", sagt Kinderarzt Danne. Viele Diabeteskranke halten ihr Leiden aus Furcht vor Ausgrenzung geheim.
Für Danne ist Diabetes deshalb auch ein gesellschaftliches Problem, das sich durch neue Medikamente und Therapien allein nicht in den Griff bekommen lässt. "Unsere Gesellschaft macht gesundes Leben nicht gerade leicht", sagt Danne. Ändern soll das ein nationaler Diabetes-Aktionsplan. "18 EU-Staaten haben den bereits, Deutschland hinkt hinterher."
Mit einem solchen Plan will Danne die Interessen der verschiedenen Lobbygruppen binden - ob Ärzte, Politik oder Nahrungsmittelindustrie. Auch die Früherkennung soll besser werden. Viele Menschen bemerken Diabetes erst, wenn sie bereits an Folgeerkrankungen leiden. "Hoher Zucker tut ja nicht weh", erklärt Danne.
Der Kinderarzt fordert zudem ein zentrales Diabetes-Register. "Wir wissen immer noch viel zu wenig darüber, wie die Leute behandelt werden." Der Bundesrat hat sich im Sommer für einen nationalen Diabetesplan ausgesprochen. Danne sieht jetzt die Bundesregierung am Zug.
Simon Ribnitzky/dpa/joe