Krebskranke Kinder Die Geschichten der Geschwister
Wenn Kinder die Diagnose Krebs erhalten, ist das ein Schock für die ganze Familie. Ängste, Sorgen, Chemo: Die Erkrankung des Kindes dominiert den Alltag. Doch auch gesunde Geschwisterkinder leiden mit - leise, wie eine Studie jetzt gezeigt hat.
Meine Schwester hat Krebs. Dieser Satz klingt bedrohlich. Er macht Angst und verunsichert. Erhält ein Kind die Diagnose Krebs egal ob Bruder oder Schwester, Sohn oder Tochter bedeutet das für die Familie eine erhebliche Belastung. Ängste, Sorgen und die Organisation des Alltags, alles dreht sich um das kranke Kind. Geschwister treten zwangsläufig in den Hintergrund.
Wie Brüder und Schwestern krebskranker Kinder die Erkrankung erleben und verarbeiten, hat ein Team um den Kinderonkologen Andreas Guggemos von der Charité Berlin und den Psychologen Florian Juen von der Universität Innsbruck in einer kleinen Studie untersucht, die am Mittwoch im Fachmagazin "Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie" erschienen ist. Sie zeigt: Die Diagnose beschäftigt die Geschwisterkinder psychisch mehr, als in ihrem Verhalten sichtbar wird.
Für die Studie haben die Wissenschaftler 14 Geschwister krebskranker Kinder mit 18 Geschwistern gesunder Kinder verglichen. Im Durchschnitt waren die Geschwisterkinder zwischen neun und zehn Jahre alt. Um zu erkennen, wie sehr der Krebs des Bruders oder der Schwester die Kinder belastet, nutzten die Forscher die sogenannte Geschichtenergänzung: Den Kindern werden mit Hilfe von Spielfiguren verschiedene Geschichten erzählt, die sie dann zu Ende spielen und erzählen sollen.
Insgesamt ergänzte jedes Kind neun solcher Geschichtenanfänge, währenddessen wurde es gefilmt, um das Verhalten auswerten zu können. Die Methode sei zwar aufwendig, aber viel aussagekräftiger als reine Abfragen mit Hilfe von Fragebögen, erklärt der Studienautor und Kinderpsychiater Alain Di Gallo von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel: "Wir erfahren so mehr über die tatsächlichen Ängste, Sorgen und Phantasien des Kindes."
"Der Fuß ist jetzt wieder gesund"
Es ist Sonntag. "Wir haben heute alle frei", sagt der Vater in einer der Geschichten, "Was möchtet ihr unternehmen?" Für den Bruder ist klar, er will Fahrradfahren. Doch es gibt ein Problem: Schwester Susanne hat ein Gipsbein. Wie geht es jetzt weiter?
Tobias* überlegte kurz und erzählte, dass die Eltern sich erst allein besprechen, um dann eine Lösung vorzuschlagen: Papa geht mit Fahrradfahren, Mama bleibt zu Hause und sieht sich mit Susanne einen Film an. Ein Ende, das zu der Situation von Tobias gut passte, erzählt Di Gallo: "Der Junge war mit seinem Vater zu Hause, während die Mutter ständig mit dem Geschwisterkind im Krankenhaus blieb." Auch dass die Eltern Verantwortung übernähmen, sei typisch. Oft würden Kinder zudem versuchen, dem Konflikt auszuweichen, indem sie sich ein Happy End ausdachten, auch wenn es unlogisch sei, zum Beispiel: "Der Fuß ist jetzt wieder gesund."
Zweimal führten die Forscher das Experiment mit jedem Kind durch: kurz nach der Diagnose und nach Abschluss der Behandlung ihres Geschwisterkinds, im Schnitt lagen 5,6 Monate dazwischen. Wie die Kinder erzählen, welche Themen sie ansprechen und wie sie mit dem Versuchsleiter interagieren, verrät den Psychologen viel über das Innenleben der jungen Probanden: Kommen Konfliktthemen wie Eifersucht oder Streit vor? Wie verhalten sich die Spielfiguren? Endet die Geschichte positiv oder negativ?
Kinder mit übermäßigen Kräften
Juen und seine Kollegen stellten fest, dass die Kinder zu Beginn der Behandlung anders reagierten als nach deren Abschluss:
- Kurz nach der Diagnose thematisierten die Geschwister erkrankter Kinder mehr moralische Inhalte wie Zurechtweisung oder Wiedergutmachung.
- Sie stellten die Elternfiguren negativer dar, etwa indem die Eltern die Kinderfiguren zurechtwiesen oder bestraften.
- Die kindliche Spielfigur verhielt sich seltener kindgerecht. Oft wurde sie größer und mächtiger dargestellt, hatte übermäßige Kräfte wie Superman, der die Welt rettet. Für die Experten offenbart sich darin ein erhöhtes Kontrollverhalten: Die Kinder haben das Bedürfnis, ihre Eltern und Geschwister zu beschützen.
- Nach Abschluss der Therapie zeigten die Geschwister dagegen weniger kontrollierendes Verhalten und beendeten ihre Geschichten deutlich positiver.
"Geschwister zu sein, ist keine Krankheit"
Gerade zu Beginn bedeute die Diagnose eine "hohe emotionale Herausforderung", schreiben die Wissenschaftler. Betroffene Geschwister leisten enorme innerseelische Arbeit, um funktionieren zu können ihre Außenwelt bekommt davon jedoch nur wenig mit: Anhand von Fragebögen überprüften die Forscher, ob die Eltern bei den Kindern schwere Verhaltensauffälligkeiten bemerkt hatten. Dem war nicht der Fall. "Das deckt sich mit Ergebnissen anderer Studien", sagt Di Gallo. Zwar gibt es auch Untersuchungen, die bei Geschwistern Problemverhalten feststellen konnten, allerdings erst ein Jahr nach Erkrankungsbeginn. Im Laufe der Zeit passten sich die Kinder an die neue Situation an.
"Wir wollen damit keine zusätzlichen psychischen Patienten machen", betont Di Gallo. "Geschwister zu sein, ist keine Krankheit". Doch die Erkrankung von Bruder oder Schwester sei eine besondere Situation, der man adäquat begegnen müsse. "Manchmal hilft schon wenig", sagt Di Gallo.
Als Tobias* die Geschichte mit Susanne und dem Gips ein zweites Mal erzählt, fällt ihm ein neues Ende ein. Die Familie unternimmt etwas, bei dem alle mitmachen können: eine Kutschfahrt.
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* Name von der Redaktion geändert