Online-Akteneinsicht Wollen Sie wissen, was Ihr Therapeut über Sie denkt?
Ein Projekt in den USA will psychisch Kranken leichteren Zugang zu den Notizen ihres Therapeuten gewähren - und zwar online. Das Konzept könnte die Beziehung zwischen Therapeut und Patient grundlegend verändern.
"Warum ich meine Psychotherapie abgebrochen habe? Weil ich nicht wusste, was mein Therapeut denkt", schreibt eine Frau in einem Online-Forum, in dem gerade eine Diskussion darüber entbrennt, ob Patienten die Mitschriften ihrer Therapeuten einsehen können sollten. "Es wäre extrem hilfreich gewesen, seine Aufzeichnungen zu lesen", betont die Foristin.
Sie spricht sich für etwas aus, das jetzt am Klinikum Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston (USA) zum Standard werden soll. Mehr als 350 Patienten mit psychischen Erkrankungen sollen über einen elektronischen Zugang von zu Hause aus regelmäßig die Notizen ihres Therapeuten lesen können.
"Die Patienten bekommen dadurch das Gefühl, mehr Kontrolle über ihre Behandlung zu haben", erklärt der Psychiater und einer der Initiatoren des Projekts, Michael Kahn, im Fachjournal "JAMA". Die Einladung, wertfrei formulierte Notizen zu lesen, helfe dem Patienten womöglich, seine psychischen Probleme aktiver zu bewältigen. Kollegen von Kahn hätten zudem in einigen Fällen beobachtet, dass sich das Verhalten schneller zum Positiven verändere, wenn Patienten in Mitschriften über ihre Probleme lesen, statt erneut persönlich darüber zu diskutieren.
Einsicht theoretisch möglich
In Deutschland haben Patienten bereits das Recht, jederzeit in ihre Akten zu schauen. Nur wenn der Therapeut die Gefahr sieht, dass die Dokumente dem Patienten oder anderen schaden könnten, darf er die Herausgabe verweigern. Dennoch ist die Einsicht für zahlreiche Patienten mit Hürden verbunden.
"Viele Behandler bestehen darauf, dass die Akte nur unter ihrer Aufsicht und nur vor Ort angesehen wird. Eine Situation, in die viele meiner Klienten nach einer Behandlung nicht noch einmal zurück wollen", sagt Petra Rossmanith von der Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie in Berlin. Im Jahr erreichen sie 30 bis 40 Beschwerden dazu, dass Akten nicht zugänglich sind. Andere berichten, dass sie nach einem stationären Aufenthalt weder wissen, welche Diagnose gestellt wurde, noch welche Medikamente ihnen verabreicht wurden.
Würden Sie die Notizen Ihres Therapeuten lesen wollen?
Teilhaben am eigenen Krankheitsverlauf
Zahlreiche Therapeuten sprechen bereits offen mit den Patienten über ihre Notizen aus den Therapiesitzungen. Auch für Barbara Lubisch ist das üblich. Die Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPTV) behandelt seit mehr als 20 Jahren Patienten in einer eigenen Praxis und wird hin und wieder gefragt, was sie vergangene Woche notiert hat. Dann blättert sie nach und liest vor. "Nur ein mündiger, aktiver Patient kann in der Behandlung richtig mitarbeiten. Die Mitschriften des Therapeuten ermächtigen ihn dazu", sagt Lubisch.
Die Befürchtung vieler Behandler, der Patient könnte von Formulierungen schockiert sein oder sich beleidigt fühlen, weist sie zurück. "Dass in den Unterlagen Dinge stehen, die der Therapeut erklären muss, das ist allerdings möglich", sagt sie. Manchmal verwendeten sie und ihre Kollegen Fachbegriffe, die in der Umgangssprache missverstanden werden können.
"Wenn die Behandler mit professioneller Empathie sensibel und behutsam formulieren - mündlich wie schriftlich - dann wird es nicht dazu kommen, dass der Patient sich gekränkt fühlt", sagt auch der Psychiater Wolfgang Maier, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).
Risiken im Gespräch ausräumen
Natürlich gebe es Patientengruppen, bei denen die Akteneinsicht während einer laufenden Therapie problematisch sein könnte, so Maier. Etwa Menschen, die sich schnell angegriffen fühlten oder jene mit Psychosen, die die Dokumente womöglich in ihre Wahnvorstellungen einbauen könnten. "Aber auch das Risiko kann ein Therapeut in den persönlichen Gesprächen ausräumen, indem er eine vertrauensvolle Beziehung zum Patienten entwickelt", sagt Maier, der auch Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn ist.
Maier begrüßt das Projekt in Boston, da es eine neue Art der Interaktion zwischen Arzt und Patient befördere: "Der Arzt muss aus seiner paternalistischen Rolle heraustreten und mit dem Patienten auf Augenhöhe arbeiten." Zugleich könne die Akteneinsicht therapeutisch wirken. Wenn der Patient liest, wie sein Therapeut ihn wahrnimmt, sei das wie eine Spiegelung. "Eine erfolgreiche Methode, die in der Psychotherapie generell schon zum Einsatz kommt, um Patienten ihre Wirkung nach außen zu verdeutlichen und ihr eigenes Selbstbild zu korrigieren", sagt Maier.
Ein Projekt wie in Boston hält er auch hierzulande für sinnvoll.
- DPA
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