Justizfilm "Die Moskauer Prozesse" Pussy Riot muss noch mal vor Gericht
So wahrhaftig, dass sogar die Polizei einschritt: Mit seinem ersten Kinofilm bietet Milo Rau einzigartige Einblicke in den russischen Kulturkampf. In "Die Moskauer Prozesse" lässt er regimekritische Künstler und Putin-treue Moralapostel in einem Gerichtssaal gegeneinander antreten.
Er zeige "eine russische Comédie humaine", sagt Milo Rau über seinen Film, und tatsächlich sieht es eher komisch als gefährlich aus, als darin einmal ein Trupp von Männern in Kosakentracht auftaucht, um dem Treiben des Schweizer Regisseurs ein Ende zu machen. Die grimmigen Herren fuchteln ein bisschen mit den Händen in die Kamera und machen sich nach einigem Palaver wieder davon. Trotzdem schildert Raus dokumentarisches Werk "Die Moskauer Prozesse", das hauptsächlich in einem improvisierten Gerichtssaal mitten in Moskau spielt, eine sehr ernste und oft bedrohliche Wirklichkeit: die juristische Bevormundung und Bestrafung regime- und gesellschaftskritischer Künstler in Russland.
Rau ist 37 Jahre alt und hat als Theatermacher unter anderem den Prozess gegen den rumänischen Diktator Nicolae Ceausescu und eine Verteidigungsrede des norwegischen Massenmörders Anders Breivik zu Bühnenstoffen gemacht. Nun zeigt er in einer Filmversion, wie seine bislang spektakulärste Theateraktion im März 2013 ablief: "Die Moskauer Prozesse" waren ein kleiner Triumph auf Raus Mission, Weltgeschichte mit dokumentarischen Mitteln aufzubereiten. Dass es bei diesen Prozessen um blutig ernste Streitigkeiten ging, begreift man, wenn nun im Film einer der Beteiligten, ein orthodoxer Christ, sagt: "Wenn jemand das Messer auf mich richtet, warte ich nicht ab, sondern stoße es ihm selbst in die Brust."
Im Gemäuer des Sacharow-Zentrums in Moskau, einem Ausstellungsraum, ließ der Regisseur Rau drei historische Strafprozesse gegen Künstler aus den Jahren der Putin-Herrschaft nachstellen - mit vielen der am russischen Kulturkampf tatsächlich Beteiligten: mit einer echten Musikerin von Pussy Riot, der Aktivistin Katja Samuzewitsch, mit echten Rechtsradikalen, echten Kirchenleuten und echten Moskauer Kämpfern für mehr Demokratie. Gezeigt werden drei Gerichtsverhandlungen, die das gesellschaftliche Klima im gegenwärtigen Russland geprägt haben und prägen.
Der Schurke wird zum Helden
Man sieht in diesem Film viele sprechende Köpfe. Der merkwürdigste gehört dem konservativen Fernsehjournalisten Maxim Schewtschenko. Er spielt die Schurkenrolle. Er ist der Hauptankläger, ein Law- and Order-Mann, der für strikten Kirchengehorsam, für Putins Politik und für die strenge Bestrafung aller Revoluzzer argumentiert. Aber er wird in diesem Film auch zum Helden, als er am dritten und letzten Tag des Schauprozesses die von der russischen Obrigkeit geschickten Störer abwimmelt: Beamte der Passbehörde dringen in den Prozesssaal ein, weil sie prüfen wollen, ob der Regisseur Rau ein gültiges Visum besitzt, und ziehen vor allem dank der Beschwichtigung durch Schewtschenko wieder ab.
"Die Moskauer Prozesse" zeigen ein Denksport-Spektakel, das lehrt, wie politische Kunst funktionieren kann. Er habe sich vorgenommen, "Bewegung in die starren russischen Verhältnisse zu bringen mit den Mitteln des Theaters", sagt Rau, der im Film selbst manchmal aus dem Off spricht. Die drei Fälle, die im Saal verhandelt werden, sind neben dem Pussy-Riot-Prozess die Verurteilung der Ausstellungsmacher von "Vorsicht, Religion!", einer Skandalschau, die im Jahr 2003 von christlichen Eiferern gestürmt wurde, und die Abstrafung der Kuratoren von "Verbotene Kunst", einer Ausstellung, die im Jahr 2007 zensierte Kunstwerke im Stil einer Peepshow versammelte. Immer geht es um eine Art von Kultur, die in den russischen Mainstream-Medien als Verrat an Gott und Vaterland diskreditiert wurde.
Er möchte, sagt der Regisseur Rau, "in der Kunst die Kraft des Realen spüren". Im Film "Die Moskauer Prozesse" sieht man vielen nicht unbedingt sympathischen Menschen dabei zu, wie sie ihre Sicht auf die Welt beschreiben - und man glaubt tatsächlich zu verstehen, dass die Verhältnisse in Russland komplizierter sind, als es die meisten westlichen Medien wahrhaben wollen. Selbst ein Hardliner wie der Ankläger Schewtschenko erscheint nicht als Verblendeter, sondern als manchmal kluger, manchmal wirrer und machoblöder, aber stets interessanter Volkstribun.
Einige Zuschauer und Kritiker warfen Rau seinen Insektenforscherblick vor und kritisierten, dass er politische Konflikte als Bühnenshow nutze, ohne klar Stellung zu beziehen. Das war zumindest gut beobachtet: Der Regisseur, der unter anderem bei Pierre Bourdieu in Paris studiert hat, will tatsächlich keine Stellung beziehen. "Für mich gibt es keinen Ort, der sich schlechter für Moral eignet als das Theater", sagt Rau. "Ich möchte zeigen, was der Fall ist."
"Die Moskauer Prozesse". Start: 20. März 2014.