Stanley Kubrick als Fotograf Eine Legende lungert im Hintergrund
Bevor er zum Regiegroßmeister aufstieg, verdingte sich Stanley Kubrick als Fotoreporter in New York - ein Band versammelt nun seine Arbeiten und lädt zum Rätseln ein: Wo ist das Genie schon sichtbar?
Man wünscht sich, dass das junge Showgirl, das sich gerade mit Hilfe eines Taschenspiegels schminkt, den kleinen Spiegel so ausgerichtet hat, dass es sieht, was sich in seinem Rücken abspielt. Denn da steht ein Mann in schwarzem Anzug mit umgehängter Kamera und fixiert sie mit dunklen, mitleidslosen Augen. Doch der Mann kümmert sie offensichtlich nicht. Sie sieht in ihm nur den Fotoreporter des "Look"-Magazins, der sie bei den Vorbereitungen auf einen Auftritt begleitet. Dabei steht hinter ihr Stanley Kubrick, der bald einer der größten Regisseure des 20. Jahrhunderts werden wird.
Knapp fünf Jahre, von 1946 bis 1950, hat Kubrick beim New Yorker Magazin "Look" gearbeitet. Noch als Schüler bot er der Zeitschrift, die lange Zeit der wichtigste Rivale von "Life" war, Fotos an. Eine Aufnahme von einem Kioskbesitzer, der inmitten von Zeitungen mit der Schlagzeile vom Tode Franklin D. Roosevelts niedergeschlagen ins Nichts blickt, war schließlich die erste, die "Look" von ihm druckte. Später erzählte Kubrick, dass er den Kioskbesitzer dazu gedrängt hatte, verzweifelter zu gucken, als er es eigentlich war, damit das Foto dramatischer ausfiel.
Hinein ins Vergnügen
Im Nachhinein erscheinen solche Anekdoten bedeutsam - denn deutet sich hier nicht schon früh Kubricks Wille zum Gestalten, Arrangieren, Inszenieren an? Die Lust an solchen Gedankenspielen packt einen, wenn man den Fotoband "Through a Different Lens: Stanley Kubrick Photographs", der Kubricks Arbeiten aus den "Look"-Jahren vereint, aufschlägt. Begleitend zu einer großen Ausstellung im Museum of the City of New York haben Donald Albrecht und Sean Corcoran, zwei Kuratoren des Museums, den umfangreichen und wunderbar modernistisch gestalteten Band in Zusammenarbeit mit Taschen herausgegeben.
Doch auch jenseits der cinephilen Schnitzeljagd durch die rund 300 versammelten Fotos nach ersten Anzeichen von Kubricks Genie macht es Spaß, sich in die Aufnahmen zu vertiefen, denn sie fangen New York in den prägenden Jahren seines wirtschaftlichen und kulturellen Aufstiegs ein. Entsprechend des Profils von "Look", das im Gegensatz zu "Time" ein realistischeres Bild des amerikanischen Nachkriegsalltags einfangen wollte, statt dessen Hochglanzversion zu präsentieren, sind Kubricks Fotos beiläufig-anekdotischer Natur.

Eine Serie fängt Menschen im Warteraum eines Zahnarztes ein, eine andere zeigt Besucher des Vergnügungsparks Palisade Parks: "Rund 200 Millionen Amerikaner geben frohen Herzens 150 Millionen Dollar pro Jahr aus, um sich der geistigen Qual von Achterbahnen und anderem Budenzauber auszusetzen", so der empört-verwunderte Anriss der begleitenden Reportage.
Anarchie in der Großstadt
Thematische Schwerpunkte lassen sich kaum ausmachen. Ein Foto-Essay über einen Jungen aus der Unterschicht, dessen gehetzter Alltag aus Schule, der Arbeit als Schuhputzer und Erledigungen für seine zehnköpfige Familie besteht, legt etwa überraschend sozialkritisches Gewicht frei.
Und so ist es eher eine ästhetische Qualität, die sich als Konstante in Kubricks Fotos über die Jahre erweist - oder besser gesagt deren Abwesenheit: Die anarchische Energie von Großstädten, die zur selben Zeit aktive Fotografen wie Arthur "Weegee" Fellig oder Vivian Maier so genial in ihren Arbeiten zu übersetzen verstanden, sucht man bei Kubrick vergebens. Seinen Aufnahmen geht Dynamik ab, es fehlt an Überraschung und damit auch an Humor.
Womöglich legen die Fotos deshalb eine andere als zunächst vermutete Spur zu Kubricks späterer Karriere als Filmregisseur aus. Es ist nicht die Inszenierungslust, die aus ihnen spricht, sondern der Unwille, sich auf das Spontane, Unvorhergesehene, schlicht: die Überraschungen des Lebens einzulassen. Denn das klingt doch schon sehr nach dem Regisseur, der später dafür bekannt wurde, eine Einstellung 127 Mal drehen zu lassen, bis sie seinen Vorstellungen entsprach.