Abgehört Die wichtigste Musik der Woche
Klarer Anwärter auf das Album des Jahres: Flying Lotus mit seiner flirrenden, tollkühnen Todes-Reflexion "You're Dead!". Außerdem: Hören Sie das neue Foxygen-Album bei uns komplett vorab! Und: Liebeserklärungen an Stevie Nicks und Tokio Hotel.
Flying Lotus - "You're Dead!"
(Warp/Rough Trade, seit 3. Oktober)
Nun könnte man sagen, dass es für einen 31-jährigen, recht sportlichen Typen wie Ellison vielleicht etwas früh ist, sich mit der Frage der Endgültigkeit zu befassen. Allerdings musste er in den vergangenen Jahren nicht nur den Tod der geliebten Tante sowie den Verlust eines seiner größten Vorbilder, Rapper J Dilla, verkraften, vor zwei Jahren starb auch noch überraschend der erst 22 Jahre alte Jazz-Pianist Austin Peralta, ein enger Freund und Kollege der Brainfeeder-Label-Posse um Ellison und den Bassisten Thundercat. Das Ausrufezeichen am Ende des Titels ist jedoch Programm. Denn Ellison generiert aus Trauer und Endzeitstimmung nicht Doom und Gloom, sondern feiert auf seinem erstaunlichen Album den Tod als Tor in eine andere spirituelle Dimension, ein Abenteuerland, das sich aus den Mythen der buddhistisch-hinduistischen Lehren ebenso befüllt wie aus Computerspielen, Mangas und HipHop-Legende - ein magischer, flirrender, religiös-kultureller Strudel, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Als Nerd, der er ist, ließ Ellison alle Instrumente einzeln einspielen, um sie dann zuhause am Rechner und mit nachgebautem oder simuliertem Analog-Equipment zu komplexen, vielschichtigen, sehr warmen und emotional aufgeladenen Jazz-Kompositionen zusammenzusetzen. Neben Thundercat gehören Saxophonist Kamasi Washington und Gitarrist Brendan Small zum Stamm-Ensemble, für zwei der 19 Tracks konnte Ellison aber auch eine echte Legende gewinnen: Herbie Hancock spielt sein signifikantes Fender-Rhodes-Piano gleich am Anfang im explodierenden, Mood setzenden "Tesla" und im nicht minder transzendierenden Interludium "Moment Of Hesitation". Die Anwesenheit des Fusion-Meisters ist eine Anerkennung für den HipHop-Innovator Ellison, im Kreis der Jazz-Erneuerer ernst genommen zu werden, umso faszinierender ist jedoch, wie homogen und selbstverständlich sich Hancocks Spiel in die elektronischen Ambient- SciFi- und Sphärenklänge Ellisons einfügt. Im Rap, der thematisch todesnähesten Spielart populärer Musik, verortet sich Flying Lotus mit seinem Phantasie-Alter-Ego Captain Murphy sowie Gastauftritten von Kendrick Lamar und Snoop Dogg in den beiden zentralen Stücken "Never Catch Me" und "Dead Man's Tetris", die Todesverachtung einmal aus jugendlicher, einmal aus lebensweiser, abgefuckterer Perspektive reflektieren.
"You're Dead!" wird so zum bisher persönlichsten Album Ellisons, der sich auf dem Cover als vielarmige Comic-Kreuzung aus Shiva und Kali über einem Zombie-Inferno inszeniert. Die klassische Blues- und Rap-Erzählung mit Blut, Wahnsinn, Pathos und Draufgängertum, als Jazz-Kaleidoskop inszeniert. Mehr wird in diesem Jahr kaum noch gehen. (9.5) Andreas Borcholte

(Polydor/Universal, seit 3. Oktober)
Für mich selbst erkannte ich bei der Rezeption von "Kings Of Suburbia" genau drei entscheidende Vorteile: 1.) "Dancing In The Dark", Titel 13 also, war doch kein Springsteen-Cover, Glück gehabt. 2.) "Totgeliebt", "Übers Ende der Welt", "Heilig", "Durch den Monsun" und weite Teile der "Humanoid"-Platte sind äußerst prima, und ich finde es leicht, über diese Hinneigung zu sprechen (und noch leichter, sie nicht zu begründen). 3.) Ich kenne keinen einzigen Ton von Avicii, Robin Thicke oder David Guetta, pinky promise. Sprich: Mir ist wurscht, wo Tokio Hotel wohl diesmal geklaut haben könnten, ich würde es eh nicht merken, auch ist mir egal, wieviel Anteil die Twins am Songwriting hatten - Hauptsache Musik!
Im Schnelldurchlauf: Der Titelsong zitiert "Shout" von Tears For Fears und leider auch das "Gelassenheitsgebet" ("God grant me the serenity to accept the things I cannot change ...", yada yada yada), das Bill Kaulitz mit salbungsvoller Stimme über Kriegsrhythmen vorträgt. Das dramatische "Invaded" ist völlig unerwartet legitimer Nachfolger von "Zoom", dabei dachte ich, dieser Beweis von außerirdischem Leben auf dem Mars sei bis 2021 nicht mehr zu toppen! Doch verschweigen wir auch nicht die Scheußlichkeiten: "Covered In Gold", "Never Let You Down" und die M-83-Anverwandlung "The Heart Get No Sleep" sind die Hölle auf Rädern, und wurden "Wo-Ho-Ho"-Chöre ("Louder Than Love") nicht schon 2010 gesetzlich untersagt? "Feel It All" ist dann aber schon wieder auf altbekanntem Niveau. Achten Sie unbedingt auf die irren Bandfotos im Booklet: Eine vollkommen einzigartige Mischung aus Army Of Lovers, "Mad Max", Akira Kurosawas "Ran", Big Bird, Sigue Sigue Sputnik, Jim Jarmusch, Village People, David Cronenbergs "Crash" und Sly Stallones "Raw Deal" (als Emo-Entwurf). Schneeflecken, unberührt. (6.3) Jan Wigger
Foxygen - And Star Power
(Jagjaguwar/Cargo, ab 10. Oktober)
Nuggets wie "San Francisco", "Shuggie" oder "No Destruction" muss man auf " And Star Power" allerdings ein bisschen länger suchen. Statt der Klarheit und Aufgeräumtheit des Vorgängers zu folgen, fallen die beiden Kalifornier, während sie sich thematisch eher den Siebzigern als den Sixteis zuwenden, zurück in ihren adoleszenten Modus Operandi: Schon als Teenager, lange vor ihrem offiziellen Debüt-Album bei Jagjaguwar im Jahre 2012, veröffentlichten sie ausschweifende, extrem sprunghafte, im Grunde total irre Lo-Fi-Konzeptalben wie "Catfood, Dogfood, Motor Oil", "Jurassic Exxplosion Phllipic" in Eigenregie. Wobei sich das Konzept inhaltlich nicht immer ganz erschließen mochte, vielleicht meint Konzept bei Foxygen ja immer nur das Formale: Ein wilder, durchaus launiger, nie wirklich ernst gemeinter Nostalgietrip in die Zeit, als Rockmusik an den Rändern ausfranste, kosmisch wurde, irgendwie weird. Genauso ist es auch mit " And Star Power" mit seinen 83 Minuten Spielzeit, seinen 24 Songs oder Songfragmenten, seinen drei "Suiten", seinem Taumeln zwischen süßem Pop und enervierendem Noise. Nur dass heute eben, im Gegensatz zur Anfangsphase dieser vielleicht grundsätzlich überschätzten Band, die ganze interessierte Pop-Welt hinhört.
Wenn man sie sucht, dann findet man inmitten des ganzen Lärms die Kleinode, für die Foxygen im letzten Jahr zu Recht gefeiert wurden, einige wurden geschickterweise gleich an den Anfang platziert: "How Can You Really" und "Coulda Bee My Love" täuschen mit Siebziger-Yachtrock-Feeling Gefälligkeit vor; auch "Cosmic Vibrations" und später "Cannibal Holocaust" orgeln und taumeln recht hübsch herum, der größte Teil des Albums bleibt jedoch bei aller zur Schau gestellten Spielfreude und Varianz seltsam unentschieden und richtungslos. Zwischen DIY-Punkrock, Bowie-Glam, Velvet Underground, Pink Floyd, Who-Opern und Chicago geht hier alles, gleichzeitig aber eben auch nicht viel. Anders als Foxygen hatten die dauerbedröhnten Psychedelic-Pioniere vor 40, 50 Jahren den Vorteil, dass solche wahnsinnigen Sounds damals noch nie jemand gehört hatte.
Heute bleibt bei liebevollen Retro-Spektakeln wie " And Star Power" immer auch der manchmal bittere Nachgeschmack der Postmoderne: Echte Innovation gibt es nicht mehr, nur noch Remix. Umso wichtiger wird es für Rado und France, sich künftig noch mehr auf die Qualität und Originalität ihrer Songs zu konzentrieren, so wie es der ähnlich nostalgische Kollege Ty Segall auf seinem jüngsten Meisterwerk "Manipulator" vorgeführt hat. Sonst folgt nach dem Dröhnen schnell das Vergessen. (6.8) Andreas Borcholte
(Reprise/Warner, seit 3. Oktober)
Später, im Traum, öffnete mir Han Yeo-reum auf offenem Meer die Augen: "70er Pop" und "Softrock" sind längst wieder cool, das weiß man doch seit Jahren, Jan, gibt es alles längst als T-Shirt bei "Urban Outfitters", misch dich halt einfach mal unter die Leute! Doch da landete auch schon das Raumschiff, überhell, lustrous, zerzaust: "24 Karat Gold", 14 Mal reines Rhodium aus dem Tresor, und zwar aus den Jahren 1969 bis 1995, "never-before-released" - Obacht, das muss der Himmel sein. Wer die fahle Göttin schätzt, wird "Starshine", das kolossale Titelstück, die Ratschlagsliste "Hard Advice" ("Go and write some real songs/ Stay out of music stores/ Don't buy that doll") und das herzerweichende "Carousel" verehren (ein Song von Vanessa Carlton, der Stevies Mutter in den Tod begleitet hat). Am Schluss dann der Sturz ins Nichts: Einen Lindsey Buckingham auszu-x-en ist nicht drin, sie liebt ihn noch, sie wird ihn immer lieben. "Have you learned to deal with this/ Oh no she says I have not learned." (8.1) Jan Wigger