"Anne Will" zum Fall Yücel Zwischen Idealismus und Realpolitik
Bei "Anne Will" ging es um die Freilassung von Deniz Yücel: Und die Runde stritt über die Frage, ob es nicht doch einen Deal gab. Ein Gast hatte eine Idee, wie solche Diskussionen künftig zu vermeiden wären.
In seiner ersten Videobotschaft in Freiheit hatte Deniz Yücel gesagt, er wisse weder, warum er festgenommen, noch, warum er nach 367 Tagen freigelassen worden sei. Für Norbert Röttgen hingegen ist "es völlig klar, dass die Freilassung so politisch war wie die Festnahme".
Der CDU-Politiker möchte die Frage der "Anne Will"-Sendung, was die Wende im Fall Yücel für das deutsche Verhältnis zur Türkei bedeutet, gerne jenseits von "Sprachregelungen" beantworten. Regelungen, denen sich Michael Roth (SPD) zunächst noch spürbar verpflichtet fühlt. Als Staatsminister im Auswärtigen Amt hatte er sich hinter den Kulissen um eine Freilassung bemüht und sagt, was mit anderen Worten auch sein Dienstherr Sigmar Gabriel sagte: "Die Gerichte sind so unabhängig wie alle anderen juristischen Institutionen".
Er sagt das so ruhig, dass Moderatorin Will entgeistert nachhakt, ob er das ernst meint. Erst da schreckt Roth auf und merkt, dass sein in alle nur denkbaren Richtungen abgefederter Diplomatensprech in einer Talkshow ein wenig missverständlich sein könnte: "Ich zitiere die türkische Regierung!", stellt er klar und bemüht sich zu betonen, dass die Türkei natürlich "meilenweit von den Prinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit entfernt" sei.
"Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt wiederum sind Erleichterung und Genugtuung über die Freiheit seines Korrespondenten deutlich anzumerken. Wofür seine Zeitung ihn eingestellt habe, dafür sei er von der Türkei eingesperrt worden - guten Journalismus. Frei von jeder professionellen Streitlust stellt Poschardt fest: "Ich habe einen hohen Respekt vor den Schwierigkeiten der Realpolitik bekommen."
Die Frage eines möglichen Deals
Auch Sevim Dagdelen von der Linken, "möchte ausdrücklich der deutschen Diplomatie danken". Man solle aber der Öffentlichkeit nicht vormachen, "dass die Türkei auf einmal ein Rechtsstaat ist", was nun aber - diesseits diplomatischer Sprachregelungen - auch niemand behauptet hat. Spannender ist da schon die Frage, ob es einen "Deal" gegeben hat mit der Türkei.
Poschardt betont, die Welt habe in dieser Frage "eine Zusicherung des Bundesaußenministeriums bekommen: Es gibt keinen Deal", und daran hege er keine Zweifel. Für einen "Idealisten im besten Sinne" wie Yücel wäre eine solche Gegenleistung, etwa in Form von Rüstungsexporten, absolut inakzeptabel. Gabriel selbst hatte erklärt, es gäbe "keinen Deal, keinen schmutzigen und auch keinen sauberen".
Dagdelen beharrt: "Er ist es nicht, der entscheidet. Über ihn wird entschieden." Sie könne sich schwer vorstellen, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan aus purer Menschenliebe eingelenkt hätte. Röttgens Einlassung, dass "die politischen Kosten für eine weitere Inhaftierung von Deniz Yücel zu hoch geworden" seien, lässt sie nicht gelten.
Poschardt: "Sagen sie dann, dass Gabriel lügt?" Nein, das will Dagdelen nun auch nicht behaupten. Gleichwohl fügt sie hinzu, werde man in den kommenden Wochen und Monaten schon sehen, was sich ändere - etwa mit Blick auf Rüstungsgeschäfte. Roth schüttelt den Kopf: "Wenn es so wäre, wie Frau Dagdelen sagt, dann hätte es doch nicht 367 Tage gedauert."
Steudtner plädiert für Abschaffung vom Waffenhandel
Das deutsche Verhältnis zur Türkei, erklärt Roth, sei durch den Umstand geprägt, dass hier "drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln lebten". Wichtiger seien nun eine Stärkung der "kritischen Zivilgesellschaft" und eine Vermittlung "unserer Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit". Dafür brauche es keine Deals, keine Absprachen. Diskretion, das schon. Schließlich sitzen noch Tausende in Haft, allein 150 Journalisten, darunter noch fünf Deutsche.
Ein Gewinn für die Runde ist der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner, selbst lange in Istanbul inhaftiert. Er kann sowohl die idealistische wie auch die realpolitische Perspektive einnehmen. Leise entschuldigt er sich dafür, das jetzt "so platt" zu sagen, aber der "Waffenhandel überhaupt" gehöre abgeschafft.
Nicht nur, weil er unmoralisch ist. Ein solches Verbot würde die deutsche Politik von vielen Zweifeln befreien, meint Steudtner: "Aufgrund unserer Geschichte könnten wir recht einfach sagen: Nee, is' nich'!" Er selbst sei persönlich übrigens zwar verändert, menschlich aber "wesentlich reicher rausgegangen" aus der Haft. Was Deniz Yücel auch zu wünschen ist.