TV-Doku "Haiti: Tödliche Hilfe" Rettet euch, die Helfer kommen
Die erschütternde Arte-Doku "Haiti: Tödliche Hilfe" zeigt, wie die internationale Gemeinschaft beim Wiederaufbau des Landes versagte. Als katastrophal erweist sich die Arroganz der Helfer: Sie halten die Haitianer für korrupt, zumindest aber für unfähig - und sind es selbst. So wie Bill Clinton.
"Es ist alles da: Geld, technische Mittel, ein Minimum an politischem Willen, Dringlichkeit, Führungskraft - eine unschlagbare Kombination", heißt es in "Tödliche Hilfe", einem Dokumentarfilm über die Aufbauarbeiten in Haiti nach dem Erdbeben im Februar 2010. Rund 35 Minuten sind erst vergangen, als Autor Raoul Peck noch einmal ins Gedächtnis ruft, wie ideal die Bedingungen für den Wiederaufbau des zerstörten Landes waren. Doch schon zu diesem Zeitpunkt wirkt seine Aufzählung zynisch. Was er bis dahin gezeigt hat, lässt nämlich nur einen Schluss zu: Die internationalen Helfer haben ihre einzigartige Chance nicht genutzt, sie haben auf beschämende Art versagt. Und dann wird es eigentlich noch schlimmer.
Raoul Peck ist als engagierter Autor bekannt, er ist in Haiti geboren und im ehemaligen Zaire aufgewachsen, er hat Spielfilme über den kongolesischen Freiheitskämpfer Patrice Lumumba und Dokus über das Profitdenken gedreht, er hat sich intensiv mit Kolonialismus beschäftigt und als haitianischer Kultusminister gedient. Alle seine Filme verhandeln biografisch verankerte Fragen, doch "Haiti: Tödliche Hilfe" dürfte sein persönlichster und direktester sein.
Erschütterung und kalte Wut über das Verhalten der internationalen Gemeinschaft halten sich in dem anderthalbstündigen Dokumentarfilm, der im Februar auf der Berlinale Premiere feierte, nur mühsam die Waage. Peck springt zwischen eindringlichen Stimmen von haitianischen Bürgern und Politikern, nüchternen Zahlen und poetischen Text-Fragmenten, in denen sich zwei Liebende dialogisch von einer gemeinsamen Zukunft in Haiti verabschieden, hin und her. Das wirkt zunächst verstörend, denn man bekommt kaum die Gelegenheit, die Fakten sacken zu lassen. 230.000 Tote, 300.000 Verletzte, 1.500.000 Obdachlose. Aber auch Spenden in Rekordhöhe, 914 Millionen Dollar aus den USA, 100 Millionen aus Brasilien, 54,8 Millionen aus Deutschland - von überall her fließt Geld in die Karibik, insgesamt sollen 11 Milliarden Dollar verteilt über fünf Jahre in Haiti ankommen.
Auf den Horror folgt die Hoffnung, so könnte es auf den ersten Blick erscheinen. Doch Peck sieht genauer hin und das von Anfang an. Wenige Stunden sind erst seit dem Erdbeben vergangen, da verkündet US-Präsident Barack Obama mit dem nüchternen Stolz des Pragmatikers, unter anderem Wasser in das Katastrophengebiet einzufliegen. Trinkwasser ist in Haiti aber genügend vorhanden. Statt den Betroffenen Geld zur Selbstversorgung zu geben und sie die lokalen Händler zu unterstützen zu lassen, bestehen die Rettungskräfte aber darauf, Wasser zu importieren - zum 50-fachen Preis dessen, was es auf den Märkten vor Ort kosten würde. Hauptsache, die Fernsehnachrichten senden in alle Welt die frohe Botschaft, wie unkompliziert Bedürftigen hier geholfen wird.
Bill Clinton ist mitleiderregend überfordert
Irrsinn trifft Unvermögen - und wird durch Misstrauen noch einmal verstärkt. Vieles, was Peck zeigt, lässt sich nur mit dieser Formel beschreiben. Haitianische Politiker und Funktionäre berichten von bizarren Fehlplanungen. Da legt an einem Tag eine NGO einen Kanal frei, kümmert sich aber nicht darum, den weg geschaufelten Schlamm zu entsorgen. Am nächsten Tag ist der Kanal wieder zugeschüttet, und eine andere NGO setzt an derselben Stelle wieder die Schaufeln an.
Peck spart nicht mit Anklagen gegen internationale Politiker - vor allem Bill Clinton, der dem Rat zur Koordinierung der Hilfsprogramme IHRC vorsitzt, nimmt er ins Visier. Fast mitleiderregend überfordert wirkt der Ex-Präsident bei den zahllosen Anfragen und Forderungen von Seiten der Haitianer, die er weder beantworten noch befriedigen kann. Doch nichts wäre unangebrachter als Nachsehen mit den haltlosen Helfern, denn sie waren es schließlich, die Geld, Material und Personal mit dem Verweis, dass die Haitianer unfähig zur Selbsthilfe wären, an sich rissen. Ein einfaches Diagramm verdeutlicht den fatalen Missstand: Im IHRC sind 15 "Partner" vertreten, haitianische Regierung und Zivilgesellschaft bilden jedoch die Minderheit - und müssen sich mit gleichberechtigten Vertretern wie Japan, Norwegen oder Weltbank darüber einigen, wie es mit ihrem Land weitergehen soll.
Über Sinn und Verfehlungen von Entwicklungshilfe ist in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren viel berichtet und gefilmt worden. Insofern dürfte die in "Tödliche Hilfe" formulierte Kritik an der internationalen Gemeinschaft für den informierten Zuschauer eindrücklich, aber nicht überraschend sein. Neuartig bei Peck ist vor allem das Einziehen einer emotional-intimen Ebene. Das erreicht er durch den bereits erwähnten Dialog zwischen zwei Liebenden, der - wie man im Abspann erfährt - einer Briefkorrespondenz von Peck mit einer nicht genauer vorgestellten Frau namens Mary Bowman entlehnt ist.
Bowman war wohl auch eine internationale Helferin, zog sich aber desillusioniert aus Haiti zurück. Was politische Hoffnungen und Erwartungen und was private Wünsche und Sehnsüchte bei ihr waren, verschwimmt in ihren Botschaften an den Zurückgelassenen. Was bleibt, ist ein einzigartiger Einblick in die libidinösen Verstrickungen, die mit jedem Hilfseinsatz einhergehen, und von denen sich niemand freimachen kann. Schon gar nicht Raoul Peck.
"Haiti: Tödliche Hilfe", Arte, 21.40 Uhr