Fehlende Uni-Streitkultur Bitte, lasst die Fetzen fliegen
Der wissenschaftliche Streit gilt als Keimzelle im Erkenntnisprozess. Er trennt die Spreu vom Weizen, schärft den Geist und ohne den Disput wäre die Wissenschaft wohl verloren. Das Hochschulmagazin "duz" fragt, ob Forscher heute wirklich noch so diskutieren, wie sie sollten.
Die Gästeliste war spektakulär, das Ziel ambitioniert: Max Planck und Wilhelm Wien waren gekommen, Marie Curie und Ernest Rutherford, Jean-Baptist Perrin, Albert Einstein und noch ein paar andere - die besten Physiker der Welt hatten sich Ende Oktober 1911 im noblen Brüsseler Hotel "Metropole" einquartiert, um über die "Theorie der Strahlung und Quanten" zu debattieren und die Ideen von Einstein und Planck auf ihre Plausibilität zu prüfen.
Fünf Tage lang wogte der fachliche Streit, wurden Argumente für und wider die Quantentheorie erwogen und verworfen. Einigkeit blieb zwar aus, doch die Konferenz wurde von allen Beteiligten als fruchtbar und erfolgreich bewertet - nicht zuletzt auch deshalb, weil die Vorträge, die Protokolle und Ergebnisse der Streitgespräche bald veröffentlicht und unter Naturwissenschaftlern noch lange weiterdiskutiert wurden.
Diese erste "Solvay-Konferenz", benannt nach ihrem Finanzier, dem belgischen Unternehmer Ernest Solvay, war der Auftakt zu einer Reihe von Aufsehen erregenden physikalischen Spitzentreffen. Legendär wurde die fünfte Solvay-Konferenz 1927, bei der 29 Ausnahme-Forscher, darunter 17 aktuelle oder kommende Nobelpreisträger, über "Elektronen und Photonen" debattierten - in Form und Kleidung äußerst stilvoll, wie die erhaltenen Fotografien zeigen, in der Sache jedoch waren harte Bandagen angesagt. Die Tagung wurde zum Ausgangspunkt der Bohr-Einstein-Debatte zur Quantenmechanik, die die Physik noch jahrelang beschäftigen sollte.
Dabei hatten solche Treffen schon damals eine gewisse Tradition. "Bereits im 19. Jahrhundert wurden Fachkonferenzen als ein wesentliches Element wissenschaftlicher Streitkultur etabliert", sagt Prof. Dr. Friedrich Steinle, Lehrstuhlinhaber für Wissenschaftsgeschichte an der Technischen Universität Berlin. Und schon im 18. Jahrhundert hatten sich Rezensionen von wissenschaftlichen Werken als weiteres Streitinstrument eingebürgert. "Damit führten vor allem Geisteswissenschaftler ihre fachlichen Debatten, und das hat sich im Grunde bis heute kaum geändert", sagt Steinle.
Kein Wunder also, dass traditionell der Schlagabtausch der Argumente auf Kongressen und in Fachbeiträgen als essenzielle Form wissenschaftlicher Auseinandersetzung gilt - einerseits als individuelle rhetorische und intellektuelle Schulung für den einzelnen Forscher, andererseits als kollektives Instrumentarium zur Suche nach Wahrheit und Erkenntnis.
Eine Wissenschaftstradition, die lebt: Bis heute werden alle drei Jahre führende Physiker zu Solvay-Konferenzen nach Brüssel eingeladen, zuletzt 2011. Doch die Außenwirkung solcher Tagungen hat sich abgeschwächt, die Faszination von Fachöffentlichkeit und interessierten Laien für wissenschaftliche Gipfeltreffen oder wochenlange Feuilleton-Gefechte ist spürbar gesunken. Ablesen lässt sich das an den wenigen großen Debatten der vergangenen Jahrzehnte: Der "Historikerstreit" um die Einzigartigkeit des Holocaust, an dem sich Geistesgrößen wie Ernst Nolte, Jürgen Habermas, Joachim Fest und Micha Brumlik beteiligten, liegt schon mehr als ein Vierteljahrhundert zurück.
Die "Grenzen des Wachstums" vom Club of Rome wurden gar 1972 publiziert. Die Debatten etwa zu den Ursachen des Waldsterbens oder über die Chancen und Risiken der Atomkraft fanden und finden kaum noch ein vergleichbares Echo.