Hilferuf von Grundschullehrern "Extreme körperliche Gewalt und Gefühlskälte"
Die Lehrer einer Grundschule in Sachsen-Anhalt beklagen in einem Brief das katastrophale Verhalten einiger Kinder. Doch nach dem Bekanntwerden will plötzlich kaum noch jemand darüber reden.
Der "Elternbrief zur Schulsituation", geschrieben am 2. Februar, beginnt mit einer eindringlichen Selbstvergewisserung. Eigentlich, schreibt das Kollegium der Grundschule Aue-Fallstein in Osterwieck-Hessen in Sachsen-Anhalt in dem Brief an die Eltern ihrer Schule, eigentlich seien Lehrer durch ihre Ausbildung durchaus zu erzieherischen Maßnahmen fähig. Und dafür benötigten sie "im Normalfall weder Hilfe noch Unterstützung".
Doch den Normalfall gibt es an der Grundschule im Harz mit 162 Schülerinnen und Schülern der Klassen 1 bis 4 im Moment offenbar nicht: "Wenn wir uns, wie in diesem Fall, an Sie wenden, bitten wir Sie, dieses Schreiben sehr ernst zu nehmen, da die Lage an der Schule derzeit sehr ernst ist", heißt es in dem Brief an die Eltern. Unterschrieben haben acht Lehrkräfte - darunter auch die Schulleiterin. Obwohl nur für die Eltern bestimmt, wurde der Brief an die lokale Tageszeitung weitergegeben.
Die Lehrer berichten darin von "permanent auftretenden, gravierenden Verhaltensproblemen vieler Schüler", es gebe "mittlerweile täglich" schwerste Probleme: Beklagt werden "extreme körperliche Gewalt, Körperverletzungen und Schlägereien", "Sabotage" und "unerlaubtes Verlassen des Unterrichts" sowie eine generelle "Gefühlskälte" gegenüber Mitschülern.
Kein Kommentar bei Lehrern und Eltern
Es ist nicht der erste Brandbrief von Lehrern, die nicht mehr klarkommen. Der bekannteste Fall ist der Notruf an der Berliner Rütli-Schule, der im März 2006 für bundesweite Aufmerksamkeit sorgte. Zuletzt hatte, ebenfalls nach einem Brief von Lehrern, die Saarbrücker Gemeinschaftsschule Bruchwiese Schlagzeilen gemacht.
- action press
Was genau an der Grundschule im Harz jetzt vorgefallen ist, dazu wollen die Unterzeichner des Briefs an die Eltern nichts sagen. Die Schulleitung war für eine Stellungnahme am Freitag nicht erreichbar. Beim Anruf bei einer Elternvertreterin wurde sofort wieder aufgelegt. Möglicherweise, heißt es bei der Schulaufsicht, sei den Beteiligten die Resonanz auf ihren Hilferuf über den Kopf gewachsen.
Wie die Magdeburger "Volksstimme" berichtet, habe es unter anderem Attacken gegen einzelne Schüler im Schulbus gegeben. Kinder wären außerdem mehrfach aus dem Unterricht oder sogar vom Schulgelände gelaufen. Außerdem seien Eltern aufgefordert worden, ihr Kind nach einem Vorfall von der Schule abzuholen - und hätten das einfach ignoriert, heißt es in dem Bericht.
"Ausdrücklich keine Brennpunktschule"
Im Interview mit dem MDR hatte sich Elternvertreterin Mandy Bähsel am Donnerstag noch "schockiert" von dem Brief gezeigt und befürchtet, "dass Kinder sich vielleicht auch gar nicht mehr trauen, in die Schule zu gehen, weil sie Angst vor Mitschülern haben, weil sie geschlagen werden".
Silke Stadöhr vom Landesschulamt weiß, wie verfahren die Situation rund um die Grundschule derzeit ist. "Wir begleiten die Schule bereits seit Anfang des Schuljahres, auch die Polizei ist informiert und wird ein Präventionsprojekt anbieten", sagte die Sprecherin des Landesschulamts Sachsen-Anhalt dem SPIEGEL. Mehrere Fortbildungen hätten bereits stattgefunden, ein weiterer pädagogischer Tag für das Kollegium ist am kommenden Dienstag geplant.
"Zum System gehören Kinder, Eltern und Lehrer - und wahrscheinlich hat jeder an der verhärteten Situation seinen Anteil", sagt Stadöhr. Jetzt wolle man erst einmal in Ruhe inhaltlich arbeiten, um den Problemen auf den Grund zu gehen. Die betroffene Grundschule sei "ausdrücklich keine Brennpunktschule", auch gebe es nur einen einzigen ausländischen Schüler. Auf einschlägigen rechtspopulistischen Seiten im Netz waren zuvor Migranten für die Konflikte verantwortlich gemacht worden.
Bilder des Stadtteils Hessen zeigen hübsche Fachwerkhäuser und eine landschaftlich reizvolle Umgebung. Zum Einzugsgebiet der Schule gehören mehrere Dörfer und Ortschaften im Umkreis, der Ort Aue-Fallstein hatte bei seiner Eingemeindung nach Osterwieck vor knapp zehn Jahren rund 5000 Einwohner.
Silke Stadöhr wünscht sich jetzt vor allem etwas mehr Gelassenheit auf allen Seiten: "Wir reden hier schließlich über Grundschulkinder!"