Netflix-Doku "Making a Murderer" Echter Mord, echter Hass
Seit dem Podcast "Serial" ist das True-Crime-Genre wieder angesagt. Tausende verfolgen Serien über echte Kriminalfälle wie jetzt die Netflix-Doku "Making a Murderer". Danach sind viele Zuschauer wütend - ihr Hass richtet sich gegen reale Personen.
Spoiler-Hinweis: Dieser Text geht mit Absicht nur grob auf die Handlung der Netflix-Dokuserie "Making a murderer" ein, die einen echten Mordfall aus dem US-Bundesstaat Wisconsin thematisiert. Die Details zur Handlung beziehen sich auf die erste von zehn Folgen.
"Making a Murderer" erzählt eine dieser Geschichten, die einen kaum mehr loslässt. Es kann passieren, dass das Gesehene und damit auch Geschehene den Zuschauer so mitnimmt, dass er zeitweise kaum an etwas anderes denkt. Der Autor dieses Artikels hat damit um Weihnachten herum seine eigenen Erfahrungen gemacht.
Bei "Making is Murderer" handelt es sich um eine rund zehnstündige Dokuserie, die seit dem 18. Dezember auf Netflix steht, auch auf Deutsch. Sie setzt sich aus Aufnahmen aus Gerichtsprozessen und Interviews zusammen, aus Videoaufzeichnungen von Polizeiverhören und mitgeschnittenen Anrufen aus Gefängnissen. Damit fällt sie ins sogenannte True-Crime-Genre, in dem es um das nachträgliche Aufarbeiten echter Kriminalfälle geht.
Das Genre ist in den vergangenen Monaten ins Rampenlicht zurückgekehrt, durch Serien wie HBOs "The Jinx", Podcasts wie "Serial" und neue Zeitschriften wie "Stern Crime". True-Crime-Serien unterscheiden sich dabei in einem entscheidenden Punkt von allen Krimis und Mystery- und Fantasy-Serien dieser Welt: Ihre Protagonisten, ob nun sympathisch, bemitleidens- oder nur verachtenswert, sind echt.
Viele Personen leben noch, sie haben vielleicht nur neue Jobs oder neue Adressen oder sitzen im Gefängnis. Viele haben Websites und Facebook- oder LinkedIn-Profile, wie es Menschen heutzutage nun einmal haben. Was die vermeintlich Guten, Bösen oder Verdächtigen im Internet von sich zeigen oder jemals online hinterlassen haben, steht plötzlich unter der Beobachtung Tausender, oftmals wütender Internetnutzer.
Empörte treffen Empörte
In "Making a Murderer" geht es im Kern um einen Amerikaner namens Steven Avery, der von 1985 an 18 Jahre lang im Gefängnis saß - für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat, wie später per DNA-Beweis herauskommt. 2003 kommt Avery frei und klagt auf eine Entschädigung in Millionenhöhe. Bald darauf wird eine junge Fotografin vermisst und ein Mordverdacht fällt auf den Mann, der sie als letztes lebend gesehen haben soll: Steven Avery.
All jene Fragen, die Produktionen wie "Making a Murderer" aufwerfen, werden heutzutage nicht mehr nur in den Köpfen der Zuschauer oder in ihren Wohnzimmern gestellt. Sie landen in großer Zahl im Internet, etwa bei r/makingamurderer auf Reddit oder in Gruppen auf Facebook. Dort treffen emotional aufgewühlte Zuschauer ihresgleichen, Hobbydetektive auf Hochstapler, Bewohner von Manitowoc County auf Menschen vom anderen Ende der Welt, die sich mit Theorien und Vermutungen über ebenjene Gegend und ihre Bewohner brüsten.
Das Phänomen, dass Menschen sich über das reine Anschauen hinaus mit Serien beschäftigen, ist nicht neu. Als beispielsweise die Mystery-Serie "Lost" im Fernsehen lief, war das Netz voll von Fantheorien - online fanden sich mehr Ideen und Vermutungen zum Fortlauf der Handlung als die Produzenten je haben konnten.
Das hier ist alles echt
Und schon als im Oktober 2014 "Serial" auf Sendung ging, bekamen dessen Hauptfiguren das Interesse und Mitteilungsbedürfnis der Online-Öffentlichkeit zu spüren: in vielen Variationen, von Unterstützungs-E-Mails bis zum Hassbrief. Der Podcast war so populär, dass sich sogar das Enthüllungsblog "The Intercept" - letztlich erfolgreich - bemühte, Jay, einen unfreiwilligen Protagonisten der Serie, zu interviewen.

Adnan Syed: Er war die Hauptfigur der Serie "Serial", Jay ein Bekannter und wichtiger Zeuge
Wütende Bewertungen per Facebook
"Irgendetwas unternehmen" wird dabei vielfältig interpretiert. Es gibt an Präsident Obama gerichtete Onlinepetitionen und Aufrufe an den Governeur von Wisconsin oder an Nichtregierungsorganisationen, sich mit dem Fall zu beschäftigen. Es gibt Leute, die Geld spenden wollen, und Leute, die vorschlagen, über ein Medium mit dem Mordopfer Kontakt aufzunehmen. Andere suchen nach Satellitenaufnahmen vom Tattag, angetrieben von Kommentaren wie: "Ziemlich traurig, dass wir die Arbeit machen, die die Polizei hätte machen sollen."
Dutzende haben auch auf Yelp, Google und Facebook Bewertungen hinterlassen, auf Profilen von Firmen oder Organisationen, die mit dem Fall in Verbindung standen. "Heuer diese Anwaltsfirma an, wenn du Lust aufs Gefängnis hast", heißt es nun auf dem Facebook-Auftritt eines Pflichtverteidigers aus der Doku, einer von fünf Sternen - und das ist nur einer von zahlreichen neuen "Erfahrungsberichten".

Aufnahmen des jungen Avery: Wenn es um Avery und seinen Neffen geht, fallen im Netz oft Begriffe wie "Karma" und "Gerechtigkeit"
"Bis zum Gehtnichtmehr belästigen"
In einer Facebook-Gruppe sammelt ein Nutzer an Heiligabend Ideen: "Gibt es einen nicht-kriminellen Weg, wie wir die Leute ( ) einschüchtern und dazu bringen können, die Wahrheit zu sagen?" Ein anderer Nutzer postet die Adresse und Telefonnummer einer Anwaltskanzlei: "Jeder sollte diesem Arschloch mailen und jeden Tag einmal anrufen und ihn bis zum Gehtnichtmehr belästigen. Ich habe das gerade gemacht."
Ein weiteres Gruppenmitglied erhofft sich neue Erkenntnisse, falls sich eine "attraktive junge Frau" an den damals verantwortlichen Staatsanwalt ranmacht: "Sie spielen schmutzig, warum sollten wir das nicht tun?" "Ich würde es versuchen", antwortet darauf eine Facebook-Nutzerin, "aber ich habe ihm schon eine Nachricht geschickt, in der ich ihn ein fettes, korruptes und schwules Schwein nenne."
Alles "nur eine Theorie"?
Seit einigen Tagen kursiert online auch der Link zu einem deutschsprachigen Facebook-Profil, dazu Fotos und auch ein Name, immer mit der Vermutung, der Mann könne in den Fall verwickelt sein. Wirklich nachprüfbar sind die Anschuldigungen nicht, erst recht nicht vom eigenen Rechner aus. Vielen Nutzern reicht in True-Crime-Foren im Zweifel der Hinweis "Nur eine Theorie", um jede Art von Verdächtigung zu rechtfertigen.
Angeheizt wird die "Making a Murderer"-Zuschauerschaft durch neue Aussagen und Stellungnahmen einiger Hauptpersonen. Eine Verwandte veröffentlichte ein Weihnachtsfoto der Avery-Familie, jemand, der zeitweise Teil der Jury war, äußert sich auf Facebook.
E-Mail-Antworten des Staatsanwalts stehen im Netz, er selbst berichtet von Hunderten E-Mails und Tweets, "90 Prozent davon beleidigend". Und ein Sheriff sagt der Presse, er würde die Serie nicht Dokumentation nennen, weil sie die Dinge nicht chronologisch wiedergibt. Selbst gesehen hat er "Making a Murderer" aber nicht, eine denkbar schlechte Diskussionsgrundlage.
Welche positiven oder negativen Auswirkungen die oft impulsartigen und kaum koordinierten Onlinevorstöße von Zuschauern auf den realen Fall haben, lässt sich bislang nicht absehen. Eins jedoch darf man bereits vermuten, so sehr man manche Reaktion auch versteht: Zumindest Verwünschungen, Belästigungen und Hass-E-Mails werden wenig dabei helfen, neues Licht auf einen Mordfall von vor zehn Jahren zu werfen.
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