Aufarbeitung des Missbrauch-Skandals Die Null-Bilanz
Die Erwartung war groß, die Enttäuschung ist es nun auch: In Berlin hat der Runde Tisch zum Thema Kindesmissbrauch Bilanz gezogen. Und die fällt ernüchternd aus. Man hat Empfehlungen erarbeitet, doch geschehen ist seither praktisch nichts. Geschichte eines Versagens.
Hamburg - Die Enttäuschung ist mindestens so groß wie die Hoffnung es einst war. Als Anfang 2010 immer mehr Missbrauchsfälle bekannt wurden in kirchlichen Einrichtungen, in Heimen, Internaten, Sportverbänden, war der Aufschrei groß. Die Opfer brachen nach Jahrzehnten ihr Schweigen. Die Gesellschaft hatte Jahrzehnte weggeschaut, die Täter mitunter geschützt, den Missbrauch so legitimiert. Es war die gesellschaftliche Debatte, die den Opfern nach Jahrzehnten zu Recht verhalf, indem sie Unrecht benannte und brandmarkte. Es wurde zurechtgerückt, was die Täter einst aus dem Lot gebracht hatten, indem sie den Opfern eine Mitschuld am Missbrauch gaben: wer die Verantwortung für das Geschehen trägt, wer Täter war und wer Opfer.
Der Aufschrei war groß, der Aktionismus auch. Die Bundesregierung richtete am 24. März 2010 den Runden Tisch "Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich" ein. Der Name war bereits so sperrig, dass man sich die Arbeit auch kaum anders vorstellen konnte. Nun, fast drei Jahre später, hat der Runde Tisch Bilanz gezogen. Und die ist ernüchternd. Denn passiert ist seither wenig. Es hat gute Ideen gegeben, doch nur wenige sind bislang umgesetzt worden. Für die Opfer, die im Zentrum der Bemühungen stehen sollten, sind praktisch keine Veränderungen spürbar.
Die Opfer haben das Nachsehen
Am Runden Tisch sitzen drei Ministerinnen: Kristina Schröder für das Familienministerium, Johanna Wanka für das Bildungsministerium, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für das Justizministerium. Kristina Schröder hat mit viereinhalb Millionen Euro Aufklärungskampagnen finanziert - was deutlich angenehmer ist, als den Blick auf die Aufarbeitung und das systematische Vertuschen der vergangenen Jahrzehnte zu lenken. Das Bildungsministerium butterte 30 Millionen in Studien zum Thema Missbrauch und verschaffte Universitäten Forschungsaufträge. Der Runde Tisch war auch eine Möglichkeit, sich zu profilieren.
Doch die entscheidenden Schritte stocken:
- Bund und Länder wollten einen 100-Millionen-Euro-Fonds aufsetzen, um Männer und Frauen, die innerhalb der Familie missbraucht worden sind, entschädigen zu können - beispielsweise durch die Finanzierung von Therapien, wenn eine Krankenkasse nicht mehr bereit ist, die Kosten zu übernehmen. Der Bund wollte 50 Millionen aufbringen, hat die Zahlung aber daran geknüpft, dass die Länder die andere Hälfte bereitstellen. Das ist bislang nicht der Fall. Die Länder werfen dem Bund vor, den Fonds nicht hinreichend ausgestaltet zu haben.
- Die straf- und zivilrechtlichen Verjährungsfristen für Missbrauch sollten verlängert werden. Zivilrechtliche Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld würden demnach 30 statt bislang nur 3 Jahre bestehen. Doch der Gesetzentwurf hängt seit 18 Monaten im Rechtsausschuss fest. Die Änderung der Fristen ist entscheidend, weil viele Opfer erst nach Jahrzehnten des Verdrängens ihr Schweigen brechen. Die Logik des Rechts und die Psyche passen bislang nicht zusammen: Die Taten sind in den meisten Fällen verjährt, bevor sie benannt worden sind.
- Der Ausbau spezialisierter Therapieangebote, beispielsweise für Jungen, stagniert.
Die Bilanz fiel entsprechend nüchtern aus: Es gibt praktisch nichts zu bilanzieren, es ist eine Geschichte des Versagens. Frustrierend ist das besonders für die Opfer, die teils dringend Hilfe benötigten und nun dem politischen Fingerhakeln ausgeliefert sind. Bund gegen Länder, Gremienmitglied gegen Gremienmitglied, das alles ist zäh, es ist Bürokratie. Das Schicksal der Opfer wird verwaltet, nicht gelindert.
Nach der Wahl kann alles von vorne beginnen
Dagegen verliefen die Gespräche mit den Vertretern der Kirchen, der Wohlfahrtsverbände und dem Deutschen Olympischen Sportbund geradezu unproblematisch, man wurde sich schnell einig. Die Politik muss sich vorhalten lassen, von den Einrichtungen, die sonst nicht für ihren Eifer beim Thema Missbrauch bekannt sind, abgehängt worden zu sein. Vielleicht ist das der größte Beweis des Versagens.
Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, der sich vor allem als Vertreter der Opferinteressen versteht, macht keinen Hehl aus seinem Frust. Im Dezember 2013 endet seine Amtszeit. Er will, dass sich die künftige Regierung im Koalitionsvertrag verpflichtet, sich für die Missbrauchsopfer einzusetzen. Wird das Gesetz zur Verlängerung der Verjährungsfristen nicht bis zur Bundestagswahl verabschiedet, wird es wohl völlig neu aufgerollt werden müssen. Und das kann dauern.