Brasiliens Angst vor dem Versagen Zu große Gefühle
Brasiliens Nationaltrainer Scolari sorgt sich um den emotionalen Zustand seiner WM-Mannschaft: Die Spieler weinen zu viel. Jetzt soll die Teampsychologin Extraschichten einlegen. Dabei gehören große Gefühle in Brasilien dazu.
Es gibt ein Sprichwort, welches das brasilianische Wesen gut beschreibt: Brasilianer weinen, sobald sie im Fernsehen eine schöne Margarine-Reklame sehen.
Große Gefühle zeigt derzeit Brasiliens Seleção. Die Nationalspieler sind von der WM im eigenen Land so angefasst, dass sie überdurchschnittlich viel weinen. So viel, dass Luiz Felipe Scolari sich um den Gemütszustand seiner Spieler sorgt.
Der Druck, den sechsten Titel zu holen - oder zumindest nicht erbärmlich früh aus der Weltmeisterschaft auszuscheiden - wächst der Mannschaft offenbar über den Kopf. Felipão, wie der Nationaltrainer in Brasilien väterlich genannt wird, will nun gegensteuern: Das Team um Scolari werde aufputschende Motivationsreden sparsamer einsetzen, meldet "O Globo" am Dienstag. Es sei allgemeiner Konsens, dass der emotionale Zustand einiger Spieler bereits jenseits des gewünschten Levels sei. Altstar Carlos Alberto, Kapitän der Weltmeistermannschaft von 1970, bemängelte das ständige Weinen der aktuellen Nationalspieler.
Vier Herzattacken und Tränen über Tränen
Woher kommen die Tränen, vielleicht aus der Geschichte? Schon den portugiesischen Kolonialherren in Brasilien wurde ein Hang zur Depression zugeschrieben - der Fado, das Klagelied, ist noch heute wichtiger Teil der portugiesischen Kultur. In der brasilianischen Musik wurde die Grundtraurigkeit mit afrikanischer Energie gemixt: Der Hang zu Tränen, zu großer Emotionalität, hat sich im Samba, im Chorinho erhalten. "Tristeza não tem fim, felizidade sim", heißt die Strophe eines bekannten Bossa-Nova-Klassiker von Tom Jobim: "Trauer hat kein Ende, Freude aber schon."
Von Freude war beim Achtelfinalspiel gegen Chile nichts zu spüren. Nach einer lausigen zweiten Halbzeit verkrampften Mannschaft und Volk in der Verlängerung und anschließend im Elfmeterschießen. TV-Zuschauer, die zuvor fluchend und schimpfend das Spiel durchlitten hatten, weinten. Manche mussten mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert werden. Ein 69-Jähriger starb an Herzversagen. Allein im WM-Stadion in Belo Horizonte mussten vier Zuschauer wegen Herzattacken behandelt werden.
Thíago Silva war nicht zum Elfmeterschießen angetreten
Auf dem Spielfeld im Mineirão gab es kein Halten: Torwart Júlio César hatte schon vor dem Elfmeterschießen geweint, weil er das Vertrauen vermisste. Und er weinte nach dem Elfmeterschießen. Weil er mit seinen Paraden das Team, das ganze Land vor dem WM-Aus retten konnte. Hulk, das Kraftpaket, und der junge Willian weinten, beide hatten ihre Elfer verschossen. Neymar - er weinte bei dieser WM schon beim Singen der Nationalhymne - verwandelte, weinte aber trotzdem. David Luiz weinte, er hatte als erster getroffen. Und Kapitän Thíago Silva weinte, er war gar nicht zum Elfmeterschießen angetreten, sondern saß abseits auf einem Ball.
Nur Scolari weinte nicht, er hielt den tropfenden Neymar im Arm, wie ein Opa, der seinen Lieblingsenkel vor dem Übel der Welt schützt.
Nach dem Gefühlsdrama wurden die Spieler ins Wochenende geschickt, die Familien sollten die überdrehten Männer wieder auf den Boden zurückbringen. Torwart Júlio César suchte auf einem Markt in Rio Balsam. Seine Frau twitterte ein Foto von ihm inmitten Dutzender Autogrammsuchender, ihr Hinweis: "Von mir aus könnte die WM jetzt zu Ende sein."
Noch ist es nicht so weit. Am Freitag muss das Team in Fortaleza ran, im Viertelfinale gegen Kolumbien. Ein Psychologenteam um die Expertin Regina Brandão war vor Wochen für die Seleção verpflichtet worden, jetzt soll es die Spieler wieder in die Spur bringen. Ganz vorsichtig.
Am Montag, als sich die Mannschaft wieder im Trainingszentrum Granja Comary in den Bergen nahe Rio traf, verzichtete Scolari auf ermüdendes Ausdauerprogramm. Die Jungs gingen zum Regenerieren erst mal ins Hallenbad.
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