Festgenommener Dschochar Zarnajew Zeuge der eigenen Anklage
Welche Rechte hat Dschochar Zarnajew? Nach der Festnahme des Bostoner Terrorverdächtigen ist in den USA eine brisante Debatte entbrannt. Die einen wollen ihm einen regulären Prozess machen - die anderen rufen nach einem Militärgericht.
Ernesto Miranda war geständig. Ja, gab der Hilfsarbeiter aus Arizona nach zweistündigem Verhör zu, er habe das 17-jährige Mädchen entführt und vergewaltigt. "Ich schwöre, dass ich diese Aussage freiwillig mache", schrieb er.
Ein Gericht verurteilte Miranda zu 20 bis 30 Jahren Haft. Sein Anwalt legte Revision ein: Das Geständnis sei nicht wirklich freiwillig gewesen, da Miranda keinen Rechtsbeistand gehabt habe. Der Fall schaukelte sich bis zum Obersten US-Gerichtshof hoch, der Miranda Recht gab und den Schuldspruch einkassierte.
Im Mai 1966 war das. Seither verliest die US-Polizei fast jedem Strafverdächtigen bei der Festnahme seine "Miranda-Rechte". Viele Cops tragen den genauen Wortlaut als Kärtchen bei sich. Es beginnt mit dem berühmten Satz: "Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern."
Vorverurteilung durch voreingenommene Polizisten?
Ein traditionsreiches Bürgerrecht, das aber bis heute nicht jeder genießt. Ausnahmen macht die US-Justiz vor allem bei Terrorverdächtigen. Jüngster Fall: Dschochar Zarnajew, der mutmaßliche Bombenleger von Boston.
Unmittelbar nach Zarnajews dramatischer Festnahme bestätigten US-Justizkreise, dass der schwerverletzte 19-Jährige nicht auf seine "Miranda-Rechte" hingewiesen worden sei, sondern zunächst ohne Rechtsbeistand befragt werden solle, sobald er ansprechbar sei. Damit will man ihm wohl auch so viele Informationen wie möglich entlocken - so dass er Zeuge der eigenen Anklage wird, bevor er dicht macht.
Die juristische Volte ist freilich hochumstritten und hat eine hitzige Debatte ausgelöst. "Wenn das Recht für Dschochar Zarnajew verbogen wird", warnt die Juristin Emily Bazelon im Online-Magazin "Slate", "ist es einfacher, es auch für den Rest von uns zu verbiegen." Eine Vorverurteilung durch voreingenommene Cops könnte zu falschen Geständnissen führen.
Auch der Harvard-Jurist und Staranwalt Alan Dershowitz erhebt Einwände: "Das FBI macht einen schweren Fehler, indem es ihm seine 'Miranda'-Warnung nicht gibt", sagte er auf CNN. "Wir sollten ihm keinen Vorwand geben, erfolgreich zu argumentieren, dass ihm seine Rechte verwehrt worden seien." Denn dann wären seine Aussagen vor Gericht nichts wert.
Eigentlich können nur Ausländer zu "enemy combatants" erklärt werden
Dabei geht es nicht nur ums Prozedere. Es geht um die viel brisantere Frage, wie die US-Justiz mit dem Bostoner Attentat und möglichen Drahtziehern umgeht. Ist dies ein Kriminalfall, der vor einem normalen Strafgericht verhandelt wird? Oder ein Terrorakt, der vor einem Militärgericht landet - also im juristischen Niemandsland, in dem die Bürgerrechte ausgehebelt sind? Eine hoch politische Entscheidung, wie sie die USA schon oft quälte seit den Anschlägen von 2001.
Die republikanischen Senatoren John McCain und Lindsey Graham fordern, Zarnajew als "enemy combatant" zu klassifizieren, als feindlichen Terrorkämpfer, und ihn schnell vor ein Militärgericht zu stellen: "Wir müssen Bescheid wissen über mögliche künftige Anschläge, die weitere amerikanische Leben kosten könnten", erklärten sie. "Unsere geringste Sorge ist ein Kriminalverfahren, das wahrscheinlich erst in Jahren stattfinden wird."
Ein Problem: Eigentlich können nur Ausländer zu "enemy combatants" erklärt werden. Zarnajew bekam aber angeblich voriges Jahr die US-Staatsbürgerschaft - am 11. September.
Carmen Ortiz, die zuständige US-Staatsanwältin für Massachusetts, scheint deshalb den Mittelweg zu wählen: Strafrecht, doch ohne "Miranda"-Schwelle. Auf einer Pressekonferenz nach Zarnajews Festnahme deutete sie zwar an, die "Miranda"-Regel treffe hier nicht zu: "Es gibt eine Ausnahme für öffentliche Sicherheit, bei Fällen nationaler Sicherheit und potentiellen Terror-Vorwürfen." Zugleich machte sie klar, dass ihr Büro den Fall nicht abtreten werde.
Verhör durch FBI, CIA und Justizministerium
Die "public-safety exemption", die Ortiz beansprucht, soll weiteres Unheil verhindern. Sie kam etwa bei Umar Farouk Abdulmutallab zum Tragen, dem "Unterhosen-Bomber" von 2009. Bei Zarnajew besteht die Sorge, dass er noch andere Bomben gelegt haben könnte - oder dass noch Komplizen auf freiem Fuß sind.
Die Ausnahmeregel gilt 48 Stunden. So lange bleibt Zeit, Zarnajew im Krankenhaus ungestört zu befragen. Das Verhör wird, wie in allen Terrorfällen mit potentiell internationalen Implikationen, von der "High Value Detainee Interrogation Group" geführt, die aus Beamten des FBI, der CIA und des Justizministeriums besteht. Spätestens wenn Zarnajew dann vor den Haftrichter kommt, am Krankenbett oder per Video, treten die "Miranda"-Rechte in Kraft.
Deren Namensgeber halfen sie übrigens am Ende nicht. Ernesto Miranda wurde 1967 erneut verurteilt, auch ohne sein Geständnis. 1975 kam er auf Bewährung frei, kurz darauf starb er bei einer Messerstecherei in einer Bar. Er trug mehrere "Miranda"-Kärtchen bei sich.