Mexikos Kampf gegen die Kartelle Krieg außer Kontrolle
Mexikos Präsident Calderón rühmt seine Erfolge im Kampf gegen die mächtigen Drogenbanden, doch in den eigenen Reihen wächst die Kritik an seiner Kriegsstrategie. Teile des Landes sind unter Kontrolle der Kartelle. In den kommenden Monaten droht eine Eskalation der Gewalt.
Guillermo Galván Galván hält sich gerne im Hintergrund. Vor allem, wenn es um den mexikanischen Drogenkrieg geht. Dabei ist der kräftige 69-Jährige eigentlich ein Hauptdarsteller im unendlichen Kampf der Regierung gegen die Kartelle. Der General ist seit Ende 2006 Mexikos Verteidigungsminister und hat inzwischen Tausende seiner Männer in die Schlacht gegen die schwerbewaffneten Banden geworfen und Hunderte dabei verloren.
Aber die Offensive gegen das organisierte Verbrechen ist in Mexiko Chefsache. Präsident Felipe Calderón managt sie selbst. Er ist der oberste Feldherr in diesem Krieg, der keine Sieger, sondern nur Tote kennt. Rund 50.000 sind es bisher in gut fünf Jahren.
Galván ist immerhin einer der wenigen Minister, die sich seit Calderóns Amtsantritt im Kabinett halten konnte. Er ist ein treuer Diener seines Herren, der sich mit der Rolle des Sekundanten und Stichwortgebers für Calderón zufrieden gibt, wenn dieser mal wieder einen der wenigen Erfolge im Ringen mit den Narco-Banden verkündet. Umso erstaunlicher war, was der Minister Anfang des Monats sagte.
Bei einer militärischen Gedenkveranstaltung in Mexiko-Stadt übte er Kritik an der Strategie seines Präsidenten. "Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen haben wir Fehler gemacht", sagte Galván. Unter den Zuhörern war auch Staatschef Calderón. Galván legte nach: "In bestimmten Regionen unseres Landes haben sich die Kartelle der Institutionen bemächtigt". Zugleich gestand der General ein, dass es Gebiete gebe, in denen der Staat das Gewaltmonopol verloren hat.
Die Kartelle geben das Tempo vor
Noch ist nicht bekannt, was Calderón seinem obersten Soldaten anschließend hinter verschlossenen Türen gesagt hat, aber die General-Schelte kann dem Präsidenten nicht gefallen haben. Er hält seit sechs Jahren eisern an seiner vielfach kritisierten Kriegspolitik gegen die Kartelle fest.
Zehntausende Soldaten und Bundespolizisten versuchen in Mexiko, die organisierte Kriminalität zurückzudrängen. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Der Kampf hat weite Teile des Landes erfasst, die Regierung ganze Landstriche an die Kartelle verloren. "Die Regionen, in denen der Staat die Hoheit verloren hat, haben sich in den letzten Jahren ausgedehnt", sagt Günther Maihold, Inhaber des Humboldt-Lehrstuhls an der Hochschule Colegio de México in Mexiko-Stadt.
Calderón und seine Mafia-Jäger haben in der Abnutzungsschlacht häufig das Nachsehen. Das Tempo geben die Kartelle vor. Kaum erklärt die Regierung eine Stadt als "befreit", beginnen Mord und Totschlag in einer anderen. Gestern waren es Tijuana, Ciudad Juárez und Acapulco, heute sind es Monterrey, Veracruz, Guadalajara.
Derart in die Enge getrieben, verkauft die Regierung jede Festnahme eines kleinen oder mittleren Drogenbosses als großen Triumph. Rauschgift- und Waffenfunde werden als das nahe Ende des Konflikts vermeldet. Schließlich ist 2012 ein Jahr, in dem sich die Augen auf Mexiko richten. Am 1. Juli wird ein neuer Präsident gewählt. Zwei Wochen davor kommen Obama, Merkel und Co. zum G-20-Gipfeltreffen nach Baja California. Zum Jahreswechsel versprach Calderón daher, er werde bis zu seinem letzten Tag im Amt dafür kämpfen, dass die Saat eines sicheren Mexikos aufgehe.
Einfluss bis nach Europa
Davon ist das Land weiter denn je entfernt, wie der Verteidigungsminister jetzt eingestand. In seiner Rede nannte er zwar die für den Staat verlorenen Gebiete nicht beim Namen. Jeder Mexikaner aber weiß, dass Galván die Region im Nordwesten des Landes meint, in der das Sinaloa-Kartell das Sagen hat.
Der gleichnamige Bundesstaat an der Pazifikküste und die angrenzenden Gebiete südlich, östlich und nördlich davon sind fest in Hand der Organisation von Joaquin "El Chapo" Guzmán, dem meistgesuchten Drogenboss der Welt. Sein "Sinaloa-Kartell" ist heute das mächtigste Verbrechersyndikat im Land und lange schon mehr als eine reine Rauschgiftmafia.
Es ist eine Organisation, die in 16 der 32 Bundesstaaten präsent ist, in 23 illegalen Geschäftsfeldern ihr Geld verdient, unter anderem mit Produktpiraterie, Menschen- und Waffenschmuggel sowie Raub von Benzin und Öl aus den Pipelines des Staatsmonopolisten Petróleos de México. Der Einfluss des Kartells reicht von den USA bis Argentinien und sogar nach Europa.
Aber nicht nur das Sinaloa-Kartell, auch deren Erzfeinde von den Zetas haben das Gewaltmonopol des Staats in ihrem Einflussgebiet teilweise gebrochen. Während das Sinaloa-Kartell den Nordwesten Mexikos beherrscht sitzen die Zetas an der nordostmexikanischen Golf-Küste. Die Organisation ist nicht aus einem Drogenkartell erwachsen, sondern eine von desertierten Elite-Soldaten gegründete paramilitärische Miliz, die vor allem mit ihrer Brutalität Schlagzeilen macht.
Die Zetas haben nach Einschätzung der auf Drogenthemen spezialisierten US-Sicherheitsfirma Stratfor inzwischen in Mexiko mehr Gebiete unter ihrer Kontrolle als das Sinaloa-Kartell. Dies ist möglich, weil sie in einer Art Franchise-System an kleine regional operierende Banden das Recht ausgeben, in ihrem Namen Mord und Totschlag zu verüben.
Der Worst Case: Ein Attentat auf einen Präsidentschaftskandidaten
Im jahrelangen Ringen um die Vorherrschaft auf Routen und Reviere haben sich Zetas und Sinaloa-Kartell als die stärksten Gruppen herauskristallisiert. Sie sind gewissermaßen die Gewinner der Marktbereinigung. Ehemals starke Banden wie die Kartelle von Tijuana, Juárez und das Golf-Kartell sind heute ganz verschwunden oder deutlich geschwächt. Nur die Zetas und das Sinaloa-Kartell verfügen nach Einschätzung des Experten für organisiertes Verbrechen, Eduardo Guerrero, über die nötige Infrastruktur und die Finanzmittel, ihre Schmuggelwaren nach Nord- und Südamerika zu exportieren. Die restlichen kleineren oder größeren Gruppen sind mittlerweile meist mit einer der beiden Großmafias alliiert.
Nachdem sich die beiden Gruppen gegen die Konkurrenz durchgesetzt hatten, ging die Gewalt im Land kurzfristig leicht zurück. 2011 nahm die Zahl der Morde im Zusammenhang mit der Drogenkriminalität gegenüber 2010 um elf Prozent zu, 12.359 Menschen starben. Zuvor war das Töten seit 2007 Jahr um Jahr regelrecht explodiert. Mal um 70 Prozent, mal um 63 Prozent, aber auch einmal um 111 Prozent. Noch 2009 war die Zahl der Morde in Mexiko dreimal niedriger als in Brasilien, heute ist sie fast identisch.
2012 könnten sich die Narco-Morde jedoch wieder auf alte Höchststände einpendeln. Es ist Wahljahr, und viele Experten fürchten in den kommenden fünf Monaten eine Verschärfung der Sicherheitslage. Die Kartelle könnten versuchen, Einfluss auf die Wahlen zu nehmen, sagt Experte Günther Maihold. "Worst Case wäre ein Attentat auf einen der drei Präsidentschaftskandidaten." So wie 1994, als der Anwärter Luis Donaldo Colossio von der Regierungspartei PRI bei einem Wahlkampfauftritt erschossen wurde. Bis heute ist das Attentat unaufgeklärt.
Der Januar hat schon einen kleinen Vorgeschmack auf das gegeben, was kommen könnte: Im ersten Monat des Jahres wurden 960 Menschen erschossen, enthauptet, massakriert und lebendig begraben. Es war einer der tödlichsten Monate, seit Calderón vor bald sechs Jahren den Krieg gegen die Kartelle ausrief.