Angst vor neuen Flüchtlingsdramen Wie die EU Libyen retten will
Drei Regierungen, Bürgerkrieg, mittendrin der "Islamische Staat": In Libyen warten Hunderttausende auf die Überfahrt nach Europa. Jetzt hat die EU einen Plan vorgelegt, um das Land zu stabilisieren. Kann das gelingen?
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Die Balkanroute ist dicht, und das Flüchtlingsdrama verlagert sich wieder aufs Mittelmeer. Am Montag kamen offenbar mehrere hundert Menschen bei einem Bootsunglück vor der ägyptischen Küste um, sechs weitere Migranten ertranken in libyschen Gewässern.
Es war wohl nur eine Frage der Zeit: Allein im März kamen nach Zahlen der EU-Grenzschutzagentur Frontex 9600 Migranten über die zentrale Mittelmeerroute in die EU - viermal so viele wie im März 2015. Nach Schätzung Brüsseler Diplomaten warten in Libyen rund 500.000 Menschen auf ihre Reise Richtung EU.
Es dürfte schwierig werden, sie davon abzuhalten: In Libyen herrscht Chaos. Es gibt drei rivalisierende Regierungen, zwischen West und Ost herrscht Bürgerkrieg - und dazwischen macht sich der "Islamische Staat" breit. Deshalb beraten die EU-Außenminister am Montag in Luxemburg gemeinsam mit den Verteidigungsministern, wie Libyen befriedet werden kann. Damit soll ein neuer Flüchtlingsandrang in Richtung Europa verhindert werden.
Das Problem: In Libyen gibt es keinen funktionierenden Staat, die Macht liegt in den Händen lokaler Milizen.
Der Westen setzt seine Hoffnung in die neue "Regierung der Nationalen Einheit", die von den Vereinten Nationen vermittelt wurde, aber noch längst nicht von allen Konfliktparteien anerkannt wird. Sie hat ihren Sitz auf der Marinebasis Abu Sitta bei Tripolis - verfügt aber über kein Territorium.
Der designierte Chef der "Regierung der Nationalen Einheit", Fayez Sarraj, soll am Abend per Videoübertragung am Ministertreffen in Luxemburg teilnehmen. Aus Sicht der Bundesregierung wäre die Inthronisierung der Einheitsregierung ein erster Schritt zur Stabilisierung Libyens.
Zudem gibt es weitere Vorhaben, die heute Abend bei einem Arbeitsdinner der Außen- und Verteidigungsminister diskutiert werden sollen:
- Als wahrscheinlich gilt die Ausweitung der EU-Militärmission "Sophia" , an der Deutschland mit etwa 400 Soldaten beteiligt ist. Bei der Sitzung in Luxemburg will die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini vorschlagen, die bisher nur in internationalen Gewässern aktive Anti-Schlepper-Mission auf die Küstengebiete Libyens zu erweitern. Die Boote sollen damit bereits am Ablegen gehindert werden.
- Frankreich fordert, dass die EU-Kriegsschiffe auch verdächtige Schiffe kontrollieren, die Waffen für den "Islamischen Staat" (IS) nach Libyen schmuggeln könnten. Die Ausbreitung des IS in dem Land sei eine "direkte Gefahr" für Europa, heißt es aus Paris. Deutschland ist jedoch skeptisch. In Berlin fürchtet man, dass ein militärisch durchgesetztes Waffenembargo inklusive dem Aufbringen verdächtiger Schiffe vom Bundestagsmandat für die beiden im Mittelmeer aktiven Marineschiffe nicht gedeckt wäre. Zudem ginge der humanitäre Charakter der EU-Mission verloren. Er erwarte "heute jedenfalls noch keine Entscheidung", sagte Steinmeier am Montag in Luxemburg.
- Im Entwurf der Schlussfolgerungen des Ministertreffens ist von 100 Millionen Euro für Hilfsprojekte die Rede, die von der Uno und der Regierung der Nationalen Einheit ausgewählt werden sollen - sie sollen die Legitimität der neuen Regierung unterstreichen. Dabei geht es um humanitäre Projekte und Hilfe beim Aufbau von Verwaltungsstrukturen.
- Die südlichen EU-Partner fordern eine schnelle Militärmission , die bei der Ausbildung einer neuen libyschen Armee helfen soll. Unter dem Arbeitstitel "Libyan International Assistance Mission" (Liam) plant Italien eine Art Turbo-Ausbildung. Bereits Mitte März trafen sich 30 Nationen, die EU-Staaten und Nachbarn wie Ägypten, Marokko, Tunesien sowie Katar und Russland zu Planungen in Rom. Die Europäer wollen bei der Ausbildung helfen, aber keine Stabilisierungstruppe ins Land entsenden. Italien will die Hälfte der Soldaten stellen. Deutschland würde sich an einer Trainingsmission beteiligen, allerdings nur im sicheren Nachbarland Tunesien.
- Die EU will die geplante Regierung um Premierminister Sarraj so gut es geht schützen. Italien will kurzfristig mit einer Präsidentengarde helfen, Deutschland will für drei Millionen Euro geschützte Fahrzeuge liefern. Zudem gibt es Pläne, ein gesichertes Regierungsviertel nach dem Beispiel der "Green Zone" in Bagdad zu errichten.
- Das Uno-Entwicklungsprogramm UNDP will mit schnellen Projekten örtliche Infrastrukturen reparieren , um "für die Bevölkerung eine 'Friedensdividende' unter der neuen Einheitsregierung spürbar zu machen", heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des Linken-Abgeordneten Andrej Hunko. Das Programm ist auf zwei Jahre angelegt und hat ein Volumen von 40 Millionen Dollar (35 Millionen Euro); Deutschland beteiligt sich mit 10 Millionen Euro.
Doch die Regierung der Nationalen Einheit ist bisher noch stark umstritten. Es ist ungewiss, ob die Bürgerkriegsparteien in Ost und West sie wirklich akzeptieren werden. Im günstigsten Fall dürften Wochen vergehen, bis auch nur ein Teil der geplanten Schritte eingeleitet werden kann. Die Schlepper können derweil weiter ihr Geschäft betreiben - und das ist lukrativ, glaubt man einem vertraulichen Bericht des Chefs der "Sophia"-Operation Enrico Credendino. Der Konteradmiral in der italienischen Marine schreibt, die Menschenschmuggler machten pro Jahr Gewinne von 250 bis 300 Millionen Euro.
Die Furcht der Europäer: Jetzt, wo die Abschottung der Westbalkanroute und der Deal mit der Türkei erste Wirkung zeigen, könnten werden wieder mehr Flüchtlinge über das Mittelmeer kommen. Die in Berlin und vor allem in Rom geäußerte Hoffnung, mit Libyen schon bald einen Deal wie mit der Türkei abschließen zu können , passt momentan nicht zur Realität im Land.
"Es wäre schon gut", sagt der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn, "wenn wir in Libyen endlich einen Gesprächspartner mit wenigstens embryonalen Befugnissen hätten."
Video: Rettungsaktion vor Sizilien
Zusammengefasst : Die EU will verhindern, dass Hunderttausende Migranten über das Mittelmeer von Libyen nach Italien gelangen. Deshalb wollen die Europäer die politische Lage in dem nordafrikanischen Krisenstaat stabilisieren. Außerdem plant die EU die Ausweitung ihrer Militärmission vor der libyschen Küste.