Israelis und Palästinenser Mein Brieffreund, der Todfeind
Eine kleine Gruppe von Israelis hält Kontakt zu Palästinensern im Gazastreifen. Ihr Ziel: Trost spenden, Vorurteile abbauen. Riskant wird es, wenn die Hamas mitliest.
In ihrem Garten kann Julia Chaitin die israelischen Kampfjets hören. Sie fliegen über ihren Kopf hinweg nach Westen - jeden Tag. 14 Kilometer, dann erreichen sie den Südzipfel des Gazastreifens. Manchmal hört sie die Explosionen, wenn die Jets dort ihre Bomben abwerfen. "Es fühlt sich an, als wäre man mittendrin", sagt die 61-Jährige.
Julia Chaitin lebt in dem Kibbuz Orim, einer Gegend, die über Nacht zum Kriegsgebiet werden kann. "Jeden Moment kann eine Rakete einschlagen." Dann wird auch ihr Weg zur Arbeit lebensgefährlich. Sie fährt im Auto am kompletten Gazastreifen entlang nach Norden bis zum Sapir College bei Sderot, wo sie Psychologie unterrichtet. Wenn wieder einmal Krieg ist, kommen ihr die Panzer entgegen - dreimal in den vergangenen sechs Jahren.
"Mir reicht es", sagt Chaitin. "Die Situation ist unerträglich, und Krieg ist keine Lösung." Mit gleichdenkenden Israelis aus dem Grenzgebiet des Gazastreifens hat sie sich in der Gruppe Other Voice (eine andere Stimme) organisiert - "anders, weil wir mit unserer Meinung in Israel natürlich eine Minderheit sind".
Die Gruppe hat auf Facebook nur 410 Mitglieder. Regelmäßig bekommt Julia Chaitin Hassmails von Israelis, die sie als Verräterin und Terroristen-Helferin beschimpfen. Viele in Israel glauben, das Gaza-Problem könne nur militärisch gelöst werden.
Trost statt Bomben
"Gewalt wird das Problem doch nie vollständig regeln. Wir brauchen eine dauerhafte politische Einigung", sagt Chaitin. Und dafür, glaubt sie, müssten erst einmal die gegenseitigen Vorurteile abgebaut werden. "Wir wollen Israelis und Palästinensern zeigen, dass auf beiden Seiten Menschen leben," sagt Chaitin. "Palästinenser sind nicht nur Terroristen und Israelis nicht nur Besatzer."
Other Voice versucht, Israelis und Gaza-Palästinenser in Kontakt zu bringen - über Facebook, E-Mail und Handy. Von Angesicht zu Angesicht ist das nur in Ausnahmefällen möglich. Die israelische Regierung verbietet ihren Staatsbürgern die Einreise nach Gaza und Palästinensern die Ausreise.
Chaitin hat einige ihrer Brieffreunde schon persönlich getroffen, wenn sie Sondergenehmigungen zur Ausreise erhalten hatten - etwa zur Behandlung im israelischen Krankenhaus. "Wenn man sich vorher schon so viel geschrieben hat und sich dann das erste Mal sieht, klickt es schnell", sagt sie.
Die Namen ihrer palästinensischen Freunde müssen geheim bleiben, sonst droht ihnen Lebensgefahr. Die in Gaza herrschende Hamas-Miliz könnte sie für feindliche Spione halten und exekutieren.
"Nicht gut, wenn sie betteln müssen"
Am Morgen hat Chaitin mit zweien ihrer Brieffreunde in Gaza hin- und hergeschrieben. "Sie hatten beide schreckliche Angst wegen der Bomben und konnten nicht schlafen. Einer schrieb: 'Ich hoffe, ich werde das überleben.' Ich habe ihnen geantwortet, dass ich mir um sie Sorgen mache und hoffe, dass ihnen nichts zustößt. Ich will, dass sie nicht nur Bomben hören, sondern auch Stimmen, die für sie da sind", sagt die Psychologin. "Sie sollen wissen, es gibt auch Israelis, die sie nicht hassen."
Es sind schwierige Freundschaften, nicht nur wegen der unüberwindbaren Grenze. Sie werden auch überlagert von den Unterschieden: Einer ist Bürger eines reichen Industriestaats, der andere wohnt in einem verarmten, abgeriegelten Gebiet.
"Natürlich schreiben sie manchmal, weil sie Hilfe wollen - Hilfe, aus Gaza herauszukommen, Hilfe, Geld aufzutreiben", sagt Chaitin. "Für sie fühlt sich das nicht gut an, wenn sie betteln müssen."
Kommuniziert wird auf Englisch oder Hebräisch - einige der jungen Palästinenser lernen es an der Gaza-Universität. Manche der Älteren können es, weil sie früher, bevor Gaza abgeriegelt wurde, in Israel gearbeitet haben.
Julia Chaitin kann sich noch an diese Zeiten erinnern, sie fuhr selbst in den Achtziger- und Neunzigerjahren nach Gaza - auf den Markt zum Einkaufen, zum Baden an den Strand. An der Hochschule, an der sie unterrichtet, studierten damals auch Palästinenser.
"Es gab damals noch viel mehr Kontakt zwischen Israelis und Palästinensern", sagt sie. "Ich will es nicht nostalgisch verklären, so schön war es nicht - aber es war nicht das", sagt sie und zeigt in den Himmel. In diesen Tagen ist es nur eine Frage von Stunden, bis sie den nächsten Kampfjet hört. Bis zur nächsten Rakete, bis zur nächsten Bombe.