Georgien-Krise Ex-Sowjetstaaten fürchten Moskaus Machtstreben
Rückkehr zur alten imperialen Politik: Seit Moskaus Offensive im Kaukasus fürchten ehemalige Sowjetrepubliken, sie könnten die nächsten Opfer russischer Aggression sein. Wie groß ist die Gefahr für die ukrainische Halbinsel Krim?
Hamburg - Der Einmarsch in Georgien hat Russlands Nachbarn schockiert. Viele Menschen in den baltischen Republiken und in Polen fürchten schon, sie könnten die nächsten Opfer sein. Das Gefühl der existentiellen Bedrohung ist angesichts eines imperial auftrumpfenden Russlands stärker geworden.
Dabei sind diese Staaten nicht nur Mitglieder der EU, sondern stehen auch unter dem Schutz der Beistandsgarantie des Nato-Vertrags. Kein Wunder also, dass man in Moldawien und in der Ukraine, die weder der EU noch der Nato angehören, die Lage insgesamt als noch ungemütlicher empfindet.
Präsident Dmitrij Medwedew warnte Moldawiens Präsidenten Wladimir Woronin bei dessen Arbeitsbesuch am 26. August in Sotschi davor, zu versuchen, das 1992 abgespaltene Territorium Transnistrien gewaltsam unter die Kontrolle Moldawiens zu bringen. Der französische Außenminister Bernard Kouchner hat Russland daraufhin nachdrücklich vor Interventionen in Moldawien und der Ukraine gewarnt. Doch wie ernst ist diese Gefahr tatsächlich?
Moskau fühlt sich als Herrscher über Sewastopol
Im Fall der Ukraine sind die Befürchtungen durchaus begründet, dass es einen heißen Konflikt geben könnte - und zwar speziell um die Krim und den russischen Marinestützpunkt der Schwarzmeerflotte in Sewastopol. Auf den ersten Blick mag das verwundern, denn als Anfang der neunziger Jahre Überlegungen angestellt wurden, wie man die seit 1954 zur Ukraine gehörende - aber überwiegend von Großrussen und zu über zehn Prozent auch von Krimtataren bewohnte - Krim in das russische Territorium eingliedern könnte, fehlte ausgerechnet die Unterstützung aus Moskau.
Noch prekärer ist die Präsenz Russlands in Sewastopol. Der jahrelange Streit um das Schicksal der Schwarzmeerflotte der Ex-UdSSR und ihres Heimathafens wurde 1997 durch einen 20-jährigen Pachtvertrag nur mit Mühe beigelegt. Zwar baut Russland seit einigen Jahren seinen Schwarzmeerhafen Noworossijsk zu einer funktionstüchtigen Alternative aus, aber das bedeutet nicht, dass man bereit ist auf Sewastopol zu verzichten und die Stadt 2017 wie vereinbart räumen wird. Durchaus möglich, dass die Russen sogar versuchen, unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand in der Stadt bleiben.
Die Skepsis hat Gründe, denn längst ist Sewastopol zu einem nationalen, großrussischen Machtstaatssymbol geworden. Obwohl der Pachtvertrag auf militärische Anlagen beschränkt ist, fühlt sich Russland daher als Herrscher über die Stadt, und es ist der Moskauer Oberbürgermeister Jurij Luschkow, der diesen Anspruch mit seiner Präsenz und markigen Sprüchen unterstreicht: Im Mai 2008 forderte er bei seinem Auftritt auf der 225-Jahrfeier der Schwarzmeerflotte ein weiteres Mal die Wiedereingliederung Sewastopols und der Krim in die Russische Föderation.
Die ukrainische Regierung erklärte ihn daraufhin zur Persona non grata, und Präsident Wiktor Juschtschenko ergriff die Initiative zu einem Gesetz über die Beendigung des Pachtvertrags. Russische Militärs und Politiker kritisierten ihn scharf und qualifizierten die harschen Reaktionen als kurzsichtige politische Liebesdienerei gegenüber der Nato ab.
Russlands Antwort auf Georgiens Einmarsch in Südossetien bestätigt seine Einschätzung. Das wiederum verheißt für das Verhältnis zur Ukraine nichts Gutes - Bernard Kouchners Warnung hat gute Gründe.
Die Krim erhielt in der Verfassung der Ukraine pro forma den Status einer "Autonomen Republik", aber ohne echte Staatsqualität. Dessen ungeachtet ist die separatistische Forderung einer Rückkehr nach Russland auf der Halbinsel jedoch anhaltend populär und könnte von Moskau leicht instrumentalisiert werden.
Nachdenklich muss indes die Einschätzung des Politologen Alexej Arbatow vom Moskauer Carnegie-Zentrum stimmen. Er stellte in einem Gastbeitrag für die "Nezavisimaja gazeta" fest: "Eine gewisse Gruppierung in Russland in den politischen Parteien, Massenmedien, staatlichen Behörden und in der Geschäftswelt ist zu dem Schluss gekommen, dass die Ukraine und Georgien unter allen Umständen der Nato beitreten werden", schreibt der Experte und warnt: "Mögen sie, so denkt man, beitreten - dann aber um einiges verkleinert: Die Ukraine ohne die Krim und das Donezbecken, Georgien ohne Abchasien und Südossetien." Die Anhänger dieser Linie würden sich auf die faktische Abtrennung der umstrittenen Territorien vorbereiten, schreibt Arbatow.
Russische Truppen bleiben in Transnistrien
Russlands Nachbarn: ehemalige Verbündete und potentielle Konfliktparteien
Damit ist auch in Zukunft nicht zu rechnen, jedenfalls so lange nicht, wie Moldawien als Gesamtstaat nicht eine für Russland akzeptable und von Moskau als Schutz- und Interventionsmacht zu garantierende Verfassungsordnung erhalten hat. Eine solche versprach der sogenannte "Kozak-Plan" von 2003. Er sah zwar die Eingliederung Transnistriens in eine "Föderation Moldawien" vor - bei weitgehender Erhaltung der staatlichen Selbständigkeit Transnistriens, starker Einwirkungsmöglichkeiten Tiraspols auf die Zentralregierung und auf diesem Wege auch Moskaus auf die Politik des Landes. Der Plan war nicht konsensfähig.
Die im September 2006 in Transnistrien veranstaltete Volksabstimmung über einen Beitritt zur Russischen Föderation verstärkte die Legitimationsgrundlagen Russlands für eine Intervention in Moldawien: 97 Prozent der Bürger stimmten dafür. Natürlich lässt das Votum Russland die volle Entscheidungsfreiheit, aber es existiert nun ein Akt praktizierter demokratischer Selbstbestimmung des "Volkes von Transnistrien", auf den sich Russland notfalls berufen könnte und würde, wenn es im Konfliktfalle eine Intervention in Moldawien für zweckmäßig halten sollte.
Den "Anschluss" Transnistriens dürfte Russland dennoch nicht anstreben. Sein Ziel ist ein anderes: Es benutzt seine Herrschaft über Transnistrien als politisch-diplomatischen Hebel, um Moldawien insgesamt im Moskauer Einflussbereich zu halten und insbesondere den Nato-Beitritt des Landes zu verhindern.
Auf den ersten Blick bestehen starke Gemeinsamkeiten zwischen Transnistrien und den Rebellenrepubliken Abchasien und Südossetien: Hier wie dort Zerfallsprodukte der UdSSR, nationale Minderheiten, nichtanerkannte Staatswesen beziehungsweise De-facto-Regime, kleine Territorien. Gewichtiger sind jedoch die Unterschiede, nämlich dass Russland keine gemeinsame Grenze mit Transnistrien hat, dass die OSZE seit Beginn des Konflikts eine bedeutende Rolle bei seiner Behandlung und "Internationalisierung" spielt und dass die Republik Moldawien viel zu schwach ist, um ernstlich an ein militärisches Vorgehen denken zu können.
Medwedews Warnung war daher nur eine symbolische Demonstration russischer Machtstaatlichkeit.
Zweimal - 1992 und 2006 - stimmten die südossetischen Einwohner für die Unabhängigkeit von Georgien. International wurden die Referenden jedoch nicht anerkannt. Georgiens Präsident Micheil Saakaschwili will die abtrünnigen Regionen wieder unter Kontrolle der Zentralregierung in Tiflis bringen. Bislang haben lediglich Russland und Nicaragua die Unabhängigkeit der beiden Provinzen anerkannt, stoßen damit aber international auf scharfe Kritik.
Nach wechselseitigem Beschuss südossetischer und georgischer Ortschaften hatte der georgische Präsident Micheil Saakaschwili zunächst eine Waffenruhe angeordnet, dann aber starteten seine Truppen überraschend einen Angriff gegen Zchinwali, die Hauptstadt der abtrünnigen Provinz Südossetien. Eine Großoffensive mit Panzern, Kampfjets und Raketen begann. Russland schlug zurück, Flugzeuge griffen auch die georgische Stadt Gori an. Der bewaffnete Konflikt griff auf die ebenfalls nach Unabhängigkeit strebende Provinz Abchasien am Schwarzen Meer über. Unter Vermittlung Frankreichs unterzeichneten die Konfliktparteien schließlich nach einer Woche ein Waffenstillstandsabkommen. Russische Truppen haben sich inzwischen aus dem georgischen Kerngebiet zurückgezogen, behalten sich aber noch immer die Besetzung von Pufferzonen und Kontrollpunkten vor.
Schon in den Monaten vor der Eskalation hatten sich die Spannungen zwischen Russland und Georgien um die Kontrolle über die Kaukasus-Regionen verschärft. Georgien hatte Russland vorgeworfen, sich Südossetien und Abchasien selbst einverleiben zu wollen.
Russland befindet sich durch die Anerkennung der Provinzen allerdings nun in einer schwierigen Lage. Als es darum ging, den Druck auf die westlichen Staaten in der Kosovo-Frage zu erhöhen, hatte der Kreml stets vor einer Welle von Unabhängigkeitserklärungen auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion gewarnt. Die russische Argumentation, nach der Südossetien ein Recht auf Eigenstaatlichkeit haben soll, galt aber nie für Tschetschenien.
Russland und die Nato arbeiteten bislang in verschiedenen Bereichen eng zusammen. Beim einzigen gemeinsamen Militäreinsatz handelt es sich um die Marineoperation "Active Endeavour", mit der die Schifffahrt im Mittelmeer vor Terrorismus geschützt und der Transport von Waffen kontrolliert werden soll. Die Nato hat nach dem russischen Einmarsch in Georgien die geplante Teilnahme eines in einem türkischen Hafen bereitliegenden russischen Schiffes abgesagt.
Wichtigstes gemeinsames Gremium ist der 2002 gegründete Nato-Russland-Rat. Die Nato-Außenminister haben beschlossen, dass dieser erst wieder tagen soll, wenn Georgien nicht mehr von russischen Soldaten "besetzt" sei. Zu den Bereichen zur Zusammenarbeit zwischen Russland und der Nato gehören die Terrorismusbekämpfung, die Bekämpfung des Drogenanbaus und -handels, vor allem in Afghanistan und Asien, Transiterlaubnisse nach Afghanistan über russisches Gebiet sowie die Nicht-Weiterverbreitung von Atomwaffen.
Eine enge Zusammenarbeit mit gemeinsamen Übungen gibt es beispielsweise im Bereich der Abwehr von Kurzstreckenraketen und bei Bemühungen, russische und westliche Systeme miteinander zu verbinden. Hohe russische Offiziere und deren Nato-Kollegen haben auch die bessere Kommunikation zwischen den Generalstäben geübt. Manöver gab es auch zur Rettung von U-Boot-Besatzungen oder im Bereich des Katastrophenschutzes. Russische Offiziere haben in Großbritannien und Frankreich auch Atomwaffenanlagen besucht.
Russland hat eine Botschaft bei der Nato und ist auch im militärischen Europahauptquartier der Nato in Mons mit einer hochrangigen Militärmission ständig vertreten. In einem Vorgängergremium des Nato-Russland-Rats, dem "Ständigen Gemeinsamen Rat" (PJC), hatte Russland 1999 aus Protest gegen den Nato-Einsatz in Serbien und im Kosovo für mehrere Monate die Mitarbeit ruhen lassen, anschließend jedoch russische Soldaten in die von der Nato geführte Kosovo-Friedenstruppe entsandt.