Musicals für Obdachlose Showtime im Ghetto von Las Vegas
Touristen kennen nur ein Las Vegas: den Kitsch und Kommerz der Casinos am "Strip". Doch die Spielermetropole hat auch noch ein anderes Gesicht. Armut, Obdachlosigkeit, Kriminalität. Eine Laiengruppe versucht, den Betroffenen zu helfen - mit Broadway-Shows.
Andrew Mays' Lebenslauf schien vorbestimmt. Ein altbekannter Teufelskreis: Aufgewachsen im Ghetto, kein Geld, der Vater abgetaucht, die Mutter konnte ihre sechs Kinder kaum ernähren. Bald landete er auf der Straße, zwischen Gangs, Drogen, Kriminalität. "Schlechte Gesellschaft", sagt er. "Ich habe ziemlich Ärger bekommen."
Doch diese Zeiten liegen hinter ihm. Der 21-jährige Schwarze sitzt in einer plüschigen Cocktailbar im Hotel-Casino Luxor am Las Vegas Boulevard, dem berühmten "Strip" mit seinen VIP-Resorts, Luxus-Malls und endlosen Spielhallen. Er trägt eine adrette Weste und einen silbernen Ohrring und bestellt Limonade.
Die monumentale Glaspyramide des Luxor, dessen Zimmer mit Hieroglyphen dekoriert sind, ist weit weg von Mays' einstigem Leben, nicht nur geografisch. Zwischen dem "Strip" und seiner Heimat, der armen Westside von Las Vegas, liegen 15 Kilometer - und Welten. Es sind die zwei Seiten des Zockerparadieses.
Las Vegas ist ein Muss auf unserem USA-Roadtrip. Wie eine Fata Morgana erscheint die Skyline im Wüstendunst. Dies ist das Las Vegas der Touristen: Kitsch, Klamauk und Kommerz, gekrönt von protzigen Hotelpalästen wie dem Venetian des Milliardärs Sheldon Adelson, der gerade bis zu 100 Millionen Dollar in den Wahlkampf der Republikaner steckt.
Kaum einer interessiert sich für das andere, unsichtbare Las Vegas: verarmt, verkommen und verrufen, abseits der Besucherhorden, nördlich der Downtown, westlich vom Freeway. Die Finanz- und Immobilienkrise traf Las Vegas besonders hart: Die Arbeitslosenquote liegt bis heute mit 12,2 Prozent weit über dem US-Wert. "Lange", sagt Mays, dessen Familie vor acht Jahren hierher zog, "kannte ich nur das."
Doch er fand den Absprung - mit Musik und Tanz. Er probt eine Rolle fürs Musical "The Color Purple". Er inszeniert selbst ein Musical. Er hat eigene Songs und erste Musikvideos produziert, unter dem Künstlernamen Dru-Young. Sein Traum sei es, "ein weltberühmter Künstler zu werden, der andere insipiriert", schreibt er auf seinem Facebook-Profil.
Noch ist das nicht mehr als eine ehrgeizige Hoffnung. Doch darum geht es ja: "Früher hätte ich nie gedacht, dass ich sowas kann", sagt Mays. "Jetzt habe ich Leute, die an mich glauben und sagen: Du kannst alles."
Damit meint er die Theatertruppe "Broadway in the Hood". Hood, Slang für Ghetto, steht hier auch für "helping others open doors" - anderen helfen, Türen zu öffnen. Die Gruppe betreut Obdachlose, Vorbestrafte, bedrohte Teenager und andere, um die sich keiner kümmert: Sie versorgt sie, verpflegt sie und versucht, sie vor dem totalen Absturz zu retten - mit Musicals.
Ihre Gründer Torrey Russell und Preston Coghil - "meine Mentoren", sagt Mays - hatten eine ähnlich harte Kindheit: Russell, 37, in Virginia, Coghil, 39, in North Virginia. Beide kamen vor elf Jahren hier in Las Vegas an, "mit einem Greyhound-Bus und 300 Dollar", sagt Russell.
Russell ist ein quirliger Mann, der ständig lacht, Coghil behäbig und still. In Las Vegas wollten sie ihrer Vergangenheit entkommen. "Alles, was wir im Kühlschrank hatten, war Wasser und Wurst", sagt Russell. "Ich wollte Steak."
Steak und Shows: Russell jobbte hinter den Kulissen der Shows am "Strip". Später ging er nach Atlanta, kehrte dann zurück und gründete 2010 mit Coghil, einem Koch, den er aus seiner Kirche kannte, "Broadway in the Hood".
Die gemeinnützige Organisation produziert aufwendige Shows mit Laienschauspielern, in Obdachlosenasylen, Suppenküchen, und auf der Straße rekrutiert und führt sie für selbige Gemeinschaft gratis auf. Russell macht Regie, Coghil das Catering, die Stadt Las Vegas stellt das Auditorium einer Bücherei zur Verfügung. Das wird dadurch zum Musical-Haus - und zur Suppenküche.
Auftritte im Fernsehen
Theater fürs Volk, Therapie für die Seele: Hier verschmelzen die konträren Welten von Las Vegas - Reichtum und Armut, Glamour und Tristesse. Die Laienstars wie das Publikum sind reformierte Drogendealer, Prostituierte und Gangmitglieder, aber auch Lehrer, Pastoren und misshandelte Frauen aus dem Viertel. Ihr erstes Stück war ein Musical über Sklaven. Seither sind sie in TV-Shows aufgetreten, bei Preisverleihungen und bei Aids-Benefizgalas.
"Die meisten von uns haben keine Familie", sagt Mays, der von Anfang an dabei ist. "Dies ist unsere Familie. Wir spielen gemeinsam, wir essen gemeinsam, wir beten gemeinsam."
Im Moment proben sie also "The Color Purple", das Musical über das Elend schwarzer Frauen im alten Süden. Die Show beruht auf Steven Spielbergs Film mit Whoopi Goldberg von 1985, der wiederum auf einem preisgekrönten Roman der legendären Autorin Alice Walker.
Das schreckt sie nicht: "Broadway in the Hood" ist die erste Laien-Company, die die Lizenz für das im Original von Talk-Queen Oprah Winfrey produzierte Musikdrama bekommen hat. Und Ende August singen sie sogar als Vorgruppe für Whoopi Goldberg selbst, die sie kürzlich kennenlernten und die am "Strip" auftritt.
"Viele Leute kennen hier nur den 'Strip'", sagt Mays. "Doch es gibt Vorstädte, Siedlungen, Gefängnisse, das Ghetto." Las Vegas, ergänzt Russell, sei in der Tat eine "Fata Morgana".
"Doch das", sagt er und zeigt stolz sein Album mit Fotos ihrer Shows vor, "das ist Realität."