Kriegsverbrechen in der Ukraine "Gestorben für Putins Lügen"
Exekutionen von Gefangenen, Angriffe mit Streubomben: In der Ostukraine haben beide Konfliktparteien Kriegsverbrechen begangen. Die Beweise dafür tragen Menschenrechtler zusammen - ihre Arbeit entlarvt die Propaganda aus Moskau und Kiew.
Im Osten der Ukraine liegt das Bergarbeiterstädtchen Nischnjaja Krynka mit 13.000 Einwohnern. Bis vor kurzem kannten es selbst zwischen Luhansk und Donezk nur wenige. Dann kam der Krieg in die Region, er brachte Nischnjaja Krynka in die Schlagzeilen, zumindest in Russland. Der Ort ist zum Schauplatz eines grässlichen Verbrechens geworden, aber auch Ursprung einer ungeheuerlichen Lüge.
Im September rückten pro-russische Verbände in die Gegend vor. In der Nähe einer Kohlemine stießen sie auf mehrere verscharrte Leichen. Manche der Körper wiesen Spuren von Handfesseln auf und Schusswunden am Schädel. Als Beobachter der OSZE vor Ort eintrafen, machten sie Fotos von den Gräbern. "Gestorben für Putins Lüge", stand auf einem.
Kämpfer der Separatisten zeigten die Stelle als erstes Reportern kreml-treuer Fernsehsender. In ihren Berichten war die Rede von Massen-Erschießungen. Moskau Botschafter bei den Vereinten Nationen sprach von "kaltblütigem Mord an Zivilisten". Ein Separatistenführer bezifferte die Zahl der Opfer auf mindestens 40, Russlands Außenminister Sergej Lawrow sprach dann aber sogar von 400 Toten. Kurz darauf eröffnete Russlands Ermittlungskomitee - eine Art Sonderstaatsanwaltschaft - ein Verfahren gegen die Regierung in Kiew, wegen angeblichen "Genozids" an der russischsprachigen Bevölkerung des Donbass.
Krassimir Jankow ist Journalist aus Bulgarien. Als einer der ersten Beobachter aus dem Westen erreichte er Nischnjaja Krynka drei Tage nach dem Fund der Gräber, im Auftrag der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI). Ingesamt zwei Wochen lang hat Jankow mit einem Team die Region bereist und Beweise für Kriegsverbrechen zusammengetragen.
"Ohne Gerichtsverfahren exekutiert"
Am Montag hat Jankow die Ergebnisse seiner Nachforschungen vorgestellt (hier eine Zusammenfassung auf der Seite von AI), auch die Kollegen von Human Rights Watch (HRW) haben Untersuchungen angestellt. Beide Berichte werfen einen Schatten auf die pro-westliche Regierung der Ukraine, die das Land in die EU führen will. Human Rights Watch hat Beweise für den Einsatz von Streubomben durch Kiews Verbände gesammelt. Der Einsatz dieser heimtückischen Waffen ist international geächtet, weil die Sprengsätze oft Zivilisten töten oder verletzen.
Das Amnesty-Team um den Journalisten Jankow fand zudem in Nischnjaja Krynka Hinweise darauf, dass die Toten in den Gräbern tatsächlich Opfer pro-ukrainischer Einheiten wurden. Mehrere Leichen wurden in der Nähe eines lange von Ukrainern gehaltenen Checkpoints gefunden. Es gebe "starke Anzeichen, dass sie von Kiev-kontrollierten Kräften ohne Gerichtsverfahren exekutiert wurden", sagt Krassimir Jankow.
Einer der Toten von Nischnjaja Krynka konnte identifiziert werden. Nikita Kolomejzew wurde das letzte Mal von seiner Familie lebend gesehen. Wenige Tage darauf stürmten Bewaffnete das Haus seiner Mutter und verwüsteten die Wohnung. Auf ihren Uniformen trugen sie Abzeichen des ukrainischen Freiwilligen-Bataillons Dnjepr-1.
Behauptungen der Regierung in Moskau "stark übertrieben"
In russischen Medien fanden die Amnesty-Erkenntnisse allerdings kein großes Echo. Das hat zwei Gründe:
Erstens entlarvt der Bericht Moskaus Behauptungen eines angeblich gezielten "Völkermords an der russisch-sprachigen Bevölkerung" als Propaganda-Lüge. Die von Außenminister Lawrow angeführte Zahl von 400 Toten sei "stark übertrieben". Amnesty zählte lediglich neun Leichen bei Nischnjaja Krynka. In vier Fällen handelte es sich offenbar um Zivilisten, die anderen hatten offenbar auf Seiten der pro-russischen Rebellen gekämpft. An einem der Gräber fand sich zudem eine Identifikationsnummer, wie sie russische Armee-Angehörige besitzen.
Zweitens dokumentiert der Bericht auch von Separatisten verübte Gräueltaten. Als ukrainische Truppen im Juli auf die Ortschaft Sewerodonezk vorrückten richteten Männer der selbsternannten "Volksrepublik Luhansk" in einem Untersuchungsgefängnis mindestens zwei Gefangene hin. Einer der Toten wurde mit einem Schuss ins Genick getötet, ein zweiter per Kopfschuss.
Im Juni exekutierten Separatisten bei Luhansk drei Männer, die des Drogenhandels verdächtigt wurden. Die örtliche Polizei fand die Leichen in einem kleinen See, die Toten wiesen Schussverletzungen in Brust und Kopf auf. In der Nähe des Sees fanden die Beamten blutverschmierte Plastiktüten und Gasmasken, die offenbar als Folterwerkzeuge eingesetzt wurden.
Amnesty knüpft sich auch Kiews Propaganda vor: So hatte ein Kommandeur behauptet, Separatisten hätten in einem Krankenhaus drei verwundete ukrainische Soldaten exekutiert. In Wahrheit wurden die Ukrainer vom Krankenhauspersonal nach Ende der Behandlung entlassen.
Laut Amnesty wurden die Ermittlungen von Kämpfern der Separatisten erschwert. Während Teams russischer Medien Zugang bekämen, werde es unabhängigen Beobachtern schwer gemacht, mutmaßliche Tatorten zu erreichen. Die Menschenrechtler fordern von beiden Konfliktparteien eine "zügige, gewissenhafte und objektive Untersuchung" von Kriegsverbrechen.
Amnesty International bezeichnet die Genozid-Vorwürfe aus Moskau als "unverantwortlich". Der Kreml säe damit nur noch mehr Hass in der Ostukraine.