Umgang mit Erdogan Weiter reden, weiter streiten
Der türkische Präsident Erdogan beschneidet Freiheitsrechte. Gleichzeitig verhandelt die EU mit ihm über Flüchtlinge und EU-Mitgliedschaft. Das kann nur gut gehen, wenn sie dabei ihren Werten treu bleibt.
Wir erleben eine verkehrte Welt: Jahrelang bemühte sich die Türkei um demokratische Reformen, stieß einen Friedensprozess mit der kurdischen PKK an, holte wirtschaftlich auf - doch die EU zeigte dem Land die kalte Schulter und ließ keine Gelegenheit aus, die Türkei spüren zu lassen, dass sie als Mitglied unerwünscht ist.
Jetzt, da sie zunehmend autoritär regiert wird, Freiheitsrechte beschnitten und Kritiker mundtot gemacht werden, die Justiz alles andere als unabhängig agiert, der Friedensprozess gescheitert und das Verhältnis zu den Nachbarländern zerrüttet ist - da will die EU neue Kapitel in den Verhandlungen über eine Mitgliedschaft eröffnen.
Verrückt? Nein, Realpolitik. Denn in der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten.
Das größte Interesse der EU ist es derzeit, den Zustrom von Flüchtlingen zu begrenzen. Über kein anderes Land kommen so viele Menschen nach Europa wie über die Türkei. All jenen, die an der Festung Europa bauen, wäre es am liebsten, die Syrer, Iraker, Afghanen und alle anderen blieben in der Türkei. Weil die Türken den Europäern helfen sollen, stellt man ihnen nun doch eine EU-Mitgliedschaft, außerdem Visafreiheit und Geld in Aussicht.
Etwa zweieinhalb Millionen Syrer leben derzeit in der Türkei, und trotz aller Probleme, die das mit sich bringt, gibt es keine pogromähnliche Stimmung, keine Massendemonstrationen, keine Antiflüchtlingspolitik. Die Regierung bemüht sich, die Menschen zu integrieren. Sie bekommen eine kostenlose Gesundheitsversorgung, der arabischsprachige Unterricht an Schulen wird ausgebaut und Syrer erhalten Zugang zum Arbeitsmarkt.
Von euch lassen wir uns überhaupt nichts gefallen!
Die Türkei ist also ein wichtiger Partner. Dass das in der EU erst jetzt erkannt wird, da man bei der Lösung der Flüchtlingskrise auf die Türken angewiesen ist, und nachdem man ihnen jahrelang mit Arroganz begegnet war, ist beschämend. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan weiß um das Dilemma der Europäer. Er kann es sich leisten, sie deutlicher denn je wissen zu lassen: Von euch lassen wir uns überhaupt nichts gefallen! Die Einbestellung des deutschen Botschafters ist da nur eine weitere Eskalationsstufe.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere EU-Politiker müssen den Spagat schaffen, einerseits die Türkei als Partner zu behalten, andererseits die eigenen Werte nicht zu verraten. Werte, die universell und nicht verhandelbar sind. Das gelingt leider nicht sehr gut, zum Beispiel, wenn Innenminister Thomas de Maizière mit Blick auf die Türkei allen Ernstes behauptet: "Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein." Meinungs- und Pressefreiheit, das Recht, zu demonstrieren und die Mächtigen zu kritisieren, ist ein zu hoher Preis, nur um Flüchtlinge fernzuhalten. Die Türkei verlangt jetzt die Löschung eines satirischen Beitrags der NDR-Sendung "Extra 3". Selbstverständlich wird das nicht passieren. Das hat der Botschafter dem türkischen Außenministerium bereits erklärt.
Die Bundesregierung sollte das aber auch laut, deutlich und in aller Öffentlichkeit tun. Sie sollte jetzt nicht schweigen, sondern den konkreten Fall zum Anlass nehmen, den Wert der Presse- und Meinungsfreiheit hervorzuheben und die Achtung dieser Werte auch von der Türkei einzufordern. Andernfalls setzt sie sich dem Verdacht aus, die Sache allein aus Rücksicht auf Erdogans Empfindlichkeiten und den Flüchtlingsdeal auf sich beruhen zu lassen.