US-Schuldenkrise Washington taumelt Richtung Staatsinfarkt
Die Zeit läuft davon, doch ein Ende des Streits in der US-Hauptstadt ist nicht in Sicht. Die mit Spannung erwartete Abstimmung über einen Republikaner-Plan im Kongress wurde verschoben - im politischen Zank scheint es nur noch Verlierer zu geben.
Der Tag eines US-Kongressabgeordneten ist derzeit leicht vorherzusagen. Am Morgen stellen sich die Parlamentarier in Washington geschlossen vor TV-Kameras und betonen nacheinander, wie nah die Nation am Rande des Abgrunds stehe. Am Abend können sie dann vermelden, dass das Land wieder einen Schritt nach vorne gemacht hat.
Der Dienstag blieb dieser Tradition treu, er war von Chaos und Machtkämpfen beherrscht, diesmal auf Seiten der republikanischen Opposition. Eigentlich hatten die Konservativen-Führer um John Boehner, den mächtigen Sprecher des Repräsentantenhauses, für ihren eigenen Plan zur Abwendung des Staatsbankrotts werben wollen - beschließt der Kongress nicht bis zum 2. August eine Anhebung der derzeitigen US-Schuldengrenze von 14,3 Billionen Dollar, können die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen.
Boehners Plan soll aus zwei Schritten bestehen: eine Anhebung der Schuldengrenze um zunächst eine Billion Dollar, genug für die Staatszahlungen bis zum Ende dieses Jahres. Diese sollen durch Ausgabenkürzungen um 1,2 Billionen Dollar über das kommende Jahrzehnt ausgeglichen werden. Außerdem soll eine Kommission sicherstellen, dass weitere Kürzungen und eine Anpassung des Steuerrechts folgen.
Die Abstimmung über diesen Vorschlag wollte Boehner schon am Mittwoch im US-Repräsentantenhaus durchsetzen. Doch am Dienstagabend musste er kleinlaut eine Verschiebung um mindestens einen Tag verkünden, weil er keine klare Mehrheit hinter sich weiß.
Rückschlag für Boehner
Das unabhängige Congressional Budget Office hat nämlich inzwischen ausgerechnet, dass sich Boehners Einsparungen nur auf rund 850 Milliarden Dollar belaufen würden - also weniger als die von ihm versprochene Erhöhung der Schuldengrenze und zu wenig für konservative Hardliner seiner Fraktion, die den US- Staatshaushalt so weit wie möglich schrumpfen wollen.
Schon zuvor war nicht klar gewesen, auf wie viele Stimmen von Parteifreunden Boehner bei seinem Vorstoß im Repräsentantenhaus hätte zählen können. Insbesondere den Anhängern der radikalen Tea-Party-Bewegung gehen seine Kürzungspläne nicht weit genug - und einige von ihnen stemmen sich gegen jeden Kompromiss zur Schuldengrenze. "Ich werde nicht für deren Anhebung stimmen", betont etwa die republikanische Präsidentschaftskandidatin Michele Bachmann, ein Liebling der Tea-Party-Bewegung.
Durch den Rückschlag für Boehner ist die Unsicherheit in der US-Hauptstadt weiter gestiegen, obwohl die Zeit auf dem Weg zum Staatsbankrott knapp wird. Immerhin hatten die Republikaner um Boehner durchaus gehofft, ihren Vorschlag sogar durch den demokratisch beherrschten Senat boxen zu können - auch wenn der demokratische Mehrheitsführer im Senat, Harry Reid, betont: "Boehners Plan ist kein Kompromiss. Er wurde für die Tea Party geschrieben, nicht für das amerikanische Volk. Und er wird im Senat auf keinen Fall durchkommen."
Reids demokratische Senatskollegen arbeiten an einem eigenen Vorstoß. Dieser sieht rund 2,7 Billionen Dollar Kürzungen bei Staatsausgaben vor, aber keine deutlichen Einschnitte in Sozialprogrammen, die Demokraten besonders wichtig sind. Allerdings wären auch Steuererhöhungen, für Republikaner ein rotes Tuch, nach diesem Plan vorerst tabu. Gleichzeitig würde die US-Schuldengrenze um etwa denselben Betrag erhöht. Damit wäre die US-Regierung zumindest bis Ende 2012 solvent - und US-Präsident Barack Obama müsste sich im Wahljahr nicht mit einer neuen Schuldendebatte herumschlagen.
Doch Zeit zum Frohlocken über Boehners Rückschlag bleibt den Demokraten nicht. Schließlich hat auch ihr Plan keine Mehrheit sicher. Washington droht in einer Spirale aus Missverständnissen, verletzten Eitelkeiten und politischen Spielchen zu versinken, die letztendlich zum Staatsbankrott führen könnte.
Am Montag waren deren Auswirkungen zur besten Sendezeit im Fernsehen zu bestaunen: Präsident Obama wandte sich aus dem Weißen Haus an die Nation und warf den Republikanern vor, einen "politischen Krieg" zu führen. Als stecke er schon wieder mitten im Wahlkampf, forderte Obama seine Anhänger auf, Kongressabgeordnete mit Telefonaten und E-Mails unter Druck zu setzen - was am Tag drauf dazu führte, dass etwa die Web-Seite von Sprecher John Boehner mehrmals abstürzte.
Unmittelbar nach dem Präsidenten war Boehner selbst auf den Fernsehschirmen zu sehen. "Obama will einen Blankoscheck, und den wird es nicht geben", rief er. Boehner, bis vor kurzem noch Obamas Verhandlungspartner, gibt derzeit nur noch den Oppositionsführer.
Die Weltwirtschaft könnte der größte Verlierer sein
Doch zeichnen sich im politischen Nahkampf keine Gewinner ab. Der Konservative Boehner ist angeschlagen, weil er die Abgeordneten seiner Partei nicht zuverlässig hinter sich vereinen kann. In republikanischen Kreisen wird schon über seine Nachfolge diskutiert.
Präsident Obama wiederum kann zwar auf Umfragen bauen, denen zufolge die Mehrheit der Amerikaner mittlerweile - wie er - einen Kompromiss im Schuldenstreit wünscht und den radikalen Blockadekurs der Tea Party ablehnt. Doch sind in neuen Umfragen seine Beliebtheitswerte etwa unter Afroamerikanern und Linken dramatisch gefallen. Diese Gruppen murren über Obamas Kompromissbereitschaft, er braucht ihre Unterstützung aber für seine Wiederwahl.
Und die Weltwirtschaft? Sie könnte der größte Verlierer sein.
Sollten Rating-Agenturen die Bonität der USA absenken oder der Staat gar zahlungsunfähig werden, wäre das ein "sehr, sehr ernstes Ereignis", warnte die IWF-Chefin. "Ein fiskalischer Schock in den Vereinigten Staaten könnte sich nachteilig auf den Rest der Welt auswirken."
Aber ein Kompromiss ist weiter nicht in Sicht. Stattdessen diskutieren Washington-Experten schon, ob es denn wirklich eine Einigung bis zum 2. August geben müsse - oder die US-Regierung doch mehr Geld übrig habe als angenommen.
"Der Konsens lautet, dass der Regierung nicht bis zum 10. August das Geld ausgehen wird", schreibt die "New York Times". Erst dann müsse sie weiteres Geld leihen, um Millionen Sozialversicherungsschecks auszustellen, was zur Zahlungsunfähigkeit führen würde.
10. August statt 2. August. Man will es sich nicht ausmalen: Noch rund eine Woche mehr, um geschlossen Richtung Abgrund zu marschieren.