Venezuela vor Kollaps: "Manchmal essen wir Hühnerfutter"
Venezuela vor dem Kollaps"Manchmal essen wir Hühnerfutter"
Venezuela hat die größten Ölreserven der Welt - und ist trotzdem ein Sozialfall. Dem Volk mangelt es an allem, dafür wächst die Wut. Hier schildern Venezolaner, wie sie ums Überleben kämpfen.
Vor allem ein Bild prägt sich dem Besucher in diesen Tagen in Venezuela ein: Es sind die Menschen, die zu Hunderten vor Supermärkten Schlange stehen. Zu jeder Tageszeit und oft auch nachts reihen sich Rentner, Erwachsene und Kinder vor den Geschäften auf und hoffen auf die Lieferung der staatlich kontrollierten Produkte.
Rund vier Stunden täglich bringen die Venezolaner damit zu, auf Maismehl, Klopapier, Fleisch, Butter, Zahnpasta, Deodorant oder Windeln zu warten. Aber man weiß nie, ob die Lastwagen mit der ersehnten Ware kommen, was sie bringen, wie viel sie bringen - immer öfter bringen sie gar nichts. Venezuela im Sommer 2016 ist ein Land, in dem nur der Mangel im Überfluss vorhanden ist. Zudem pulverisiert eine der höchsten Preissteigerungsraten der Welt die Ersparnisse und Löhne der Menschen. In einem der rohstoffreichsten Länder der Welt sind viele Menschen inzwischen von Hunger bedroht.
Kinder gehen nicht in die Schule, bekommen zu Hause nichts zu essen. Krankenhäuser schließen ihre Operationssäle, weil Ersatzteile für wichtige Apparate fehlen. Sterbenskranke Menschen erhalten lebenserhaltende Medikamente nicht. Und Unternehmen aller Branchen stellen ihre Produktion ein, weil der Staat ihnen keine Devisen zuteilt und sie so keine Zutaten oder Ersatzteile importieren können.
Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", einst von Venezuelas charismatischem Präsidenten Hugo Chávez für das Erdölland erfunden, ist 17 Jahre nach Beginn des Experiments am Ende. Das Land mit den größten Ölreserven der Welt: ein internationaler Sozialfall. Venezuela produziert nichts mehr außer Öl, muss fast alles importieren. Aber da der Ölpreis um fast zwei Drittel gefallen ist, reichen die Staatseinnahmen nicht. Aber die Regierung des amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro kürzt lieber die Importe als die Staatsanleihen nicht zu bedienen.
Zwischenzeitlich rationierte Venezuela auch den Strom. Im April hatte die Regierung wegen häufiger Stromausfälle und Strommangels einen Notfallplan aufgestellt, um Energie zu sparen. So wurde etwa die Arbeitswoche im öffentlichen Dienst auf zwei Tage verkürzt, die Schulen blieben freitags geschlossen.
Jetzt hat das Land dank abklingender Dürre seine Stromrationierungen beendet. Ab Montag werde die Versorgung mit Elektrizität wieder normal funktionieren, sagte Präsident Nicolás Maduro am Freitag im Fernsehen. Die Stromversorgung in dem Opec-Land hängt zu 60 Prozent von Wasserkraftwerken ab, denen die schwere Dürre zu schaffen machte.
Gegner werfen der Regierung vor, zu wenig in den Ausbau und die Wartung der Energie-Infrastruktur zu investieren. Zudem sorgen großzügige Subventionen dafür, dass das südamerikanische Land zu den größten Stromverbrauchern in der Region gehört.
Die Regierung sucht trotzdem die Schuld für die Misere bei anderen. Die bürgerliche Opposition und die USA führten einen Wirtschaftskrieg gegen das südamerikanische Land, so die ständige Rechtfertigung. Präsident Maduro hat gerade noch 18 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung, von der Macht will er dennoch nicht lassen. Aber die Gegner seiner linksnationalistischen Regierung drängen auf ein Abberufungsreferendum gegen ihn. Gegenwärtig prüft der Wahlrat, ob die Voraussetzungen für das Volksbegehren erfüllt sind.
"Wenn die Regierung das Abberufungsreferendum nicht zulässt, dann kommt es zu einem sozialen Aufruhr", warnt Oppositionsführer Henrique Capriles im Interview mit SPIEGEL ONLINE. Venezuela im Sommer 2016: Ein Land, das jederzeit explodieren kann.
Hier erzählen Venezolaner, wie sie die Krise trifft und was sie tun, um ihr zu entgehen:
Blanca Bautista, Hausfrau (52) und Sohn Gabriel (12), Frailes de Catia, Caracas
Mein Mann hat seinen Job verloren. Er arbeitete als Eisverkäufer, aber es gibt kein Eis mehr, weil es keinen Zucker mehr gibt und keine Becher. Jetzt haben wir nichts mehr. Die kleinen Ersparnisse sind weg. Unterstützung vom Staat haben wir nicht. Manchmal essen wir die Reisschalen, die eigentlich als Futter für die Hühner gedacht sind. Ich habe schon Nächte vor Supermärkten zugebracht, um auf Lieferungen zu warten, die dann nicht kamen. Ich bin schon auf Märkte gegangen, um dort in den Abfällen Essbares zu finden. Das Schlimmste ist, dass ich meinen Sohn Gabriel an manchen Tagen nicht zur Schule schicken kann, weil ich ihm kein Frühstück machen kann.
Jeffer Pinilla, 24, Wachmann, Pinto Salinas, Caracas
Ich werde in drei Monaten Vater und weiß nicht, ob ich meiner Tochter eine Kindheit bieten kann, wie ich sie hatte. Was ist, wenn sie krank wird? Es gibt keine Medikamente. Und ich stehe schon jetzt für Windeln an, aber es gibt sie kaum in den Drogerien. Da sollen sie 400 Bolivares kosten, und ich muss ein Ultraschallbild von dem Kind vorzeigen, damit ich überhaupt welche kaufen darf. Aber meistens muss ich ohnehin auf den Schwarzmarkt zu den Bachaqueros. Aber bei denen kosten die Windeln fast zehnmal so viel wie zu den kontrollierten Preisen in den Läden. Ich bekomme den Mindestlohn von 15.000 Bolivares, davon kann ich gerade drei Pakete Windeln und zwei Tüten Babymilch kaufen. Präsident Maduro ist völlig überfordert mit der Regierung. Chávez wäre das nicht passiert. Hier in Venezuela gab es nie Hunger. Früher blieb immer etwas übrig am Monatsende, haben mir meine Eltern erzählt. Ich setze sehr auf das Abberufungsreferendum. Wenn die Regierung es nicht zulässt, müssen wir alle auf die Straße gehen.
Dominga Villegas, 65, Hausfrau Macarao, Vorort von Caracas
Am Anfang hat es mich Überwindung gekostet, Abfälle nach Essbarem zu durchsuchen, da schämt man sich. Aber wenn der Magen knurrt, verliert man die Scham sehr schnell. Ich fahre fast jeden Tag auf den Großmarkt in Coche. Früh am Morgen sind die Abfälle noch frisch. Ich suche nach Obst und Gemüse, was ich zu Hause verwenden kann. Heute habe ich eine Tasche voller Zitronen mitgenommen, sind nur leicht beschädigt. Und auch kleine Pfefferschoten. Es ist nicht schön, wenn man sich in die Abfallberge knien muss. Aber mir bleibt nichts übrig. Meine Pension von 15.000 Bolivares reicht bei diesen Preisen nicht. Fleisch und Reis sind auf dem Schwarzmarkt unerschwinglich. Mir hat die Regierung viel gegeben: ein neues Heim, die Pension. Aber das ist furchtbar jetzt. Das muss geregelt werden. Ganz schnell.
Ignacio Ramírez, 52, Kfz-Mechaniker, Petare
Ich war mal "Chavist", habe sogar für die Regierung als Leibwächter gearbeitet. Aber jetzt habe ich für das Abberufungsreferendum unterschrieben. Präsident Maduro führt das Land in die Katastrophe. Wir verdienen in Bolivares und die Preise sind so, als verdienten wir Dollars. Es reicht hinten und vorne nicht. Ich habe vier Kinder, und sie sollten meine jüngste Tochter mal sehen. Sie ist total dürr geworden. Ich habe gestern vier Stunden in der Schlange für Mehl und Butter angestanden. Aber als ich dran war, gab es nichts mehr. Neulich hatte ich einen Job in einem anderen Bundesstaat als Motorrad-Mechaniker. Sie haben mir 200.000 Bolivares bezahlt. Aber die Fahrt kostet schon 10.000 hin und zurück. Und das Essen für meine Familie 30.000. Das geht alles nicht auf. Wir leben hier nicht, wir überleben.
José Quintero, 58, Leiter der NGO "Pro Catia", Catia, Caracas
Unser Viertel hat sich verändert, seit die Krise so dramatische Ausmaße angenommen hat. Geschäfte haben geschlossen, weil sie nicht mehr überleben können. Einer der größten Arbeitgeber in Catia, das Vertriebszentrum der Getränkefirma Polar, hat geschlossen, und damit sind 187 direkte Arbeitsplätze weggefallen. Aber da hängen noch viel mehr indirekte Jobs dran. All die kleine Kioske und Aus-dem-Haus-Verkaufsläden haben große Teile ihres Einkommens eingebüßt, weil sie kaum noch oder gar kein Bier mehr verkaufen. Aber noch schlimmer ist, dass die Menschen die Solidarität ablegen. Früher konnte man den Nachbarn um Kaffee oder Zucker anpumpen, heute rückt keiner mehr was raus. Die Menschen sind frustriert, die Kriminalität steigt. Kaum noch jemand geht abends raus. Das soziale Gefüge ist völlig aus dem Gleichgewicht geraten.
Zum Autor
Pablo Castagnola
Klaus Ehringfeld lebt seit 2001 als freier Korrespondent in Mexiko und berichtet regelmäßig für SPIEGEL ONLINE aus Mittel- und Südamerika.
Offenbar wurde er aber noch vor kurzem gewählt. Vlt. ist der Mangel besser als die Unterdrückung zu Zeiten vor den Experimenten.
Sozialismus, Kapitalismus hin und her, man braucht immer eine funktionierende Verwaltung und [...]
Offenbar wurde er aber noch vor kurzem gewählt. Vlt. ist der Mangel besser als die Unterdrückung zu Zeiten vor den Experimenten.
Sozialismus, Kapitalismus hin und her, man braucht immer eine funktionierende Verwaltung und eine Politik, die nicht jeden Tag eine neue Verordung erläßt und jede Verläßlichkeit torpediert.
weil vor nicht allzu langer Zeit in diesem Forum noch Beiträge von Verfassern zu lesen waren, die wohl gesättigt euphorisch den von Maduro fortgesetzten Chavismus verteidigten.
weil vor nicht allzu langer Zeit in diesem Forum noch Beiträge von Verfassern zu lesen waren, die wohl gesättigt euphorisch den von Maduro fortgesetzten Chavismus verteidigten.
es ist schon bemerkenswert, wie diese sozialistischen "Experimente" allesamt in die Hose gegangen sind!?! Was wohl der gute Kalle dazu sagen würde?
Die Idee des Sozialismus ist ja aus vielen Gründen die einzig [...]
es ist schon bemerkenswert, wie diese sozialistischen "Experimente" allesamt in die Hose gegangen sind!?! Was wohl der gute Kalle dazu sagen würde?
Die Idee des Sozialismus ist ja aus vielen Gründen die einzig wahre, gerechte und erfolgsversprechende Sache im politischen Raum. Wenn da nicht ein kleiner Schönheitsfehler wäre: Der Liebe Mensch!
Würden die Staatsgeschäfte einst von Cyborgs geleitet, so könnte man dieses Modell gerne wieder rausholen.
der nicht gefördert wird, hilft die Welt vor der globalen Erderwärmung zu bewahren.
Die Venezolaner sollten also mit chinesischen und/oder US- amerikanischen PV- Panels versorgt werden.
Die Kosten dafür sollten deutsche [...]
der nicht gefördert wird, hilft die Welt vor der globalen Erderwärmung zu bewahren.
Die Venezolaner sollten also mit chinesischen und/oder US- amerikanischen PV- Panels versorgt werden.
Die Kosten dafür sollten deutsche Photovoltaik- Fans und die Weltbank übernehmen.
... für die der "Kapitalismus" (damit ist wohl die Marktwirtschaft gemeint) böse ist, ist Venezuela wieder das beste Beispiel, dass der Sozialismus immer gegen die Wand fährt. Kennt jemand ein positives Beispiel?
... für die der "Kapitalismus" (damit ist wohl die Marktwirtschaft gemeint) böse ist, ist Venezuela wieder das beste Beispiel, dass der Sozialismus immer gegen die Wand fährt. Kennt jemand ein positives Beispiel?
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