SPD-Urgestein Was die deutsche Politik von Hans-Jochen Vogel lernen kann
Gefürchtet als Besserwisser, gescheitert als SPD-Kanzlerkandidat: Hans-Jochen Vogel wird heute 90 Jahre alt. Er hatte Qualitäten, die der Politik in der Flüchtlingskrise fehlen.
Früher war ja alles besser. In der Politik, im Journalismus, in der Wirtschaft. Nichts ist so anstrengend, wie mit den Großkopferten von einst über das Hier und Jetzt zu sprechen: Weil sie sich und die Vergangenheit in der Regel groß- und die Gegenwart kleinmachen.
Nicht so Hans-Jochen Vogel.
Und deshalb ist der Mann, der an diesem Mittwoch 90 Jahre alt geworden ist, ein so bemerkenswerter Fall. "Ich neige jedenfalls nicht zu der Meinung, dass alles besser wäre, wenn ich noch dabei wäre", hat der SPD-Politiker gerade in einem "Zeit"-Interview gesagt. Und: "Im Vergleich zu meiner Zeit ist vieles schwieriger geworden." Diese Sätze sind so treffend, man kann sie getrost zweimal lesen.
Vogel ist zweifellos eine große politische Figur der alten Bundesrepublik. Er war Bundesminister, SPD-Chef und Vorsitzender der Bundestagsfraktion, Kanzlerkandidat, Regierender Bürgermeister von Berlin. Und lange Zeit Oberbürgermeister Münchens.
Der aktive Politiker Vogel war aber auch der Mann mit den Klarsichthüllen, der als ewiger Besserwisser galt, humorlos und dröge. Vogel scheiterte 1981 in Berlin gegen Weizsäcker und zwei Jahre später als Herausforderer von CDU-Kanzler Helmut Kohl. Nach dem Fall der Mauer verkannte er als SPD-Chef zunächst die Chancen auf die Wiedervereinigung. Als Politiker mit besonderer Fortune bleibt er nicht in Erinnerung.
Natürlich aber wird auch Vogel in seiner Bedeutung immer größer, je länger er lebt. Das liegt zum einen daran, dass nur noch wenige aus seiner Generation da sind, zuletzt sind Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker gestorben. Wer übrig bleibt, auf den fällt immer mehr Licht.
Doch da ist noch etwas anderes. Etwas, das Vogel selbst - siehe erster Absatz - ganz anders sehen würde: Dieser Sozialdemokrat hatte als Politiker Qualitäten, die dem Land heute besonders gut täten. Gerade in der Flüchtlingskrise mit ihren besonderen Herausforderungen. Manches, was ihm früher als Nachteil ausgelegt wurde, das wird heute schmerzlich vermisst:
- Beharrlichkeit
Vogel dachte in langen Linien - und hielt an ihnen fest. Das ist eine Qualität, die insbesondere seiner eigenen Partei und deren Vertretern zunehmend abgeht. Oder wer kann im Moment noch genau sagen, welchen Kurs die SPD in der Flüchtlingskrise eigentlich verfolgt? In der Union geht es ohnehin wild durcheinander - selbst Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel scheint, Schrittchen für Schrittchen, von ihrem "Wir schaffen das"-Diktum abzurücken.
Der "Zeit" sagte Vogel: "Ich möchte als jemand in Erinnerung bleiben, der die Menschen und seine Aufgabe ernst genommen hat und der sich an das gehalten hat, was er sagte." Seinerzeit wurde Vogel dieser Anspruch mitunter als Starrsinn ausgelegt, wenn er sich denn für ein politisches Ziel entschieden hatte. Aber wer glaubwürdige Politik machen will, darf eben nicht ständig sein Fähnchen in den Wind halten.
- Detailversessenheit
Es gibt ja dolle Anekdoten über Vogel: Wie der SPD-Politiker beispielsweise mitten in der Nacht einen Referenten aus dem Schlaf klingelte, weil ihm ein wichtiges Detail fehlte. Vogel drückte seinen Anspruch so aus: Er wolle, "dass Politik nicht mit Wortwolken, sondern mit solider handwerklicher Arbeit betrieben werden kann". Damit dürfte er manchen seiner Mitarbeiter an den Rand des Wahnsinns getrieben haben - aber am Ende wusste der Sozialdemokrat eben genau, wovon er sprach.
Hatte die Kanzlerin mehr als eine Ahnung von der gewaltigen Aufgabe, die sie sich und der Bundesregierung zu Beginn der Flüchtlingskrise mit ihrer Haltung auflud? Vogel wies in der "Zeit" selbst darauf hin, wie sehr "das Verständnis und die Durchsicht" für Politiker heute erschwert würden - auch wegen der "digitalen Entwicklung, die vieles zu sehr auf den Moment fixiert, und dann kommt schon der nächste Moment mit der nächsten Nachricht".
Aber eines ist gewiss: Der Sozialdemokrat hätte sich beim Blick auf die Ausmaße der Flüchtlingskrise in die Sache verbissen und nicht mehr losgelassen, bis ein Plan zu deren Lösung vorläge.
- Bescheidenheit
Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" sagte Vogel eine "Selbstgefälligkeit in der Bescheidenheit" nach: Weil sich der SPD-Politiker lieber ins Taxi als in seinen Dienstwagen setzte, U-Bahn fuhr und über Kollegen in der Businessclass im Flugzeug spottete. Aber es war eben mehr als Koketterie. Machtdemonstrationen waren ihm deshalb fremd, weil Vogel dafür keinen Grund sah.
Vogel weiß, dass Bescheidenheit - gerade in der Politik - nicht nur eine Zier ist.
Kaum vorstellbar, dass er sich in der Griechenlandkrise so verhalten hätte wie viele deutsche Politiker, die mit einem Dünkel gegenüber Athen und anderen europäischen Staaten auftraten, als sei Deutschland etwas Besseres.
Das ist nicht vergessen: Nun, da Berlin in der Flüchtlingskrise auf die Hilfe der anderen angewiesen ist, scheint mancher Staat in der EU die Gelegenheit zu sehen, sich zu rächen.
Und übrigens: Herzlichen Glückwunsch, Hans-Jochen Vogel!