Umstrittene Islamismus-Kampagne "Vermisst"-Postkarten an NSU-Tatort verteilt
Das Innenministerium setzt die umstrittene "Vermisst"-Kampagne gegen Islamismus fort. Zwar verzichtet man weiterhin auf Plakate, stattdessen sollen Postkarten die Aktion öffentlich machen. Ausgerechnet an einem Tatort der NSU-Terrorserie in Köln wurden die Flugblätter nun verteilt.
Köln - Trotz Protesten werden in mehreren deutschen Städten zurzeit Postkarten mit den Motiven aus der "Vermisst"-Kampagne des Bundesinnenministeriums verteilt. Mit der Werbekampagne soll die Radikalisierung von jungen Muslimen verhindert werden - Gegner werfen Innenminister Friedrich vor, Muslime unter Generalverdacht zu stellen und Vorurteile zu befeuern. Das Innenministerium hatte daher die zunächst geplante Plakatierung ausgesetzt, die Werbemaßnahmen werden aber nun mit Flugblättern fortgesetzt.
Auch in der Kölner Keupstraße, wo 2004 bei einem Anschlag des Terrortrios "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) 22 Menschen verletzt worden sind, wurden die Karten ausgelegt. Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) kritisiert das Innenministerium scharf: "Es genügt nicht, nur die Plakataktion zu dieser Werbekampagne zu stoppen, alle Werbemaßnahmen müssen sofort eingestellt werden", so Roters in einer Stellungnahme. Die Verteilaktion in der Keupstraße zum jetzigen Zeitpunkt sei "in hohem Maße unsensibel".
Inwieweit dies auf explizite Anweisung des Innenministeriums geschehen ist, ist unklar. Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE bestätigte ein Sprecher zunächst nur, dass sich die Verschiebung ausschließlich auf die Großflächenplakate bezog. "Die Öffentlichkeitskampagne 'vermisst' wird ansonsten planmäßig fortgesetzt mit dem Ziel, im Interesse eines friedlichen Miteinanders der islamistischen Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Menschen entgegenzutreten", so der Ministeriumssprecher weiter.
"Unglücklicher Zufall"
Für die Verteilung ist die United Ambient Media AG aus Hamburg verantwortlich. "Für uns war das ein ganz normaler Auftrag", sagte der Geschäftsführer Stefan Wasmuth auf Anfrage. Zu den Details des Kontrakts mit der Agentur, die im Auftrag des Bundesinnenministeriums die Kampagne durchführt, wollte sich der Hamburger Geschäftsmann "aus juristischen Gründen" nicht äußern. Auch mochte er keine Angaben zu der Frage machen, auf wessen Veranlassung die Karten ausgerechnet in der Kölner Keupstraße verteilt worden waren. "Es war wohl ein unglücklicher Zufall", vermutet Wasmuth. Die Karten würden jedenfalls seit Montag in mehreren deutschen Städten ausgegeben.
Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE bestimmt ein Verteilungsplan, dass die Werbeträger in Gegenden mit hohem Ausländeranteil verbreitet werden sollen. Üblicherweise werden die Karten in Restaurants und Geschäften ausgelegt oder dort in dafür vorgesehene Halterungen gestellt. Bereits in der vergangen Woche waren die ersten Exemplare in der Kölner Keupstraße aufgetaucht. Offenbar hatte der örtliche Verteiler herausfinden wollen, ob die Unternehmer dort überhaupt bereit sind, die Karten in ihre Läden zu legen.
"Wir haben erst gar nicht gemerkt, was das ist", erzählt Hülya Özdag, die in der Straße eine Feinkonditorei betreibt und die Interessengemeinschaft Keupstraße vertritt. Sie sei nicht selbst im Geschäft gewesen, als die Austräger die Flyer bei ihnen abgegeben häten. Erst als Kunden sie auf deren Inhalt aufmerksam gemacht hätten, habe sie sich die Karten näher angesehen und sofort weggeworfen: "Es ist eine Frechheit, die ausgerechnet hier zu verteilen, ich bin total sauer."
"Kampagne von Anfang an falsch konzipiert"
Auch der Kölner Abgeordnete Arif Ünal von den Grünen ist empört: "Der Bundesinnenminister drängt die Menschen, die in der Keupstraße leben, nach jahrelangen eklatanten Ermittlungspannen schon wieder in eine Täterrolle." Es sei "äußerst unsensibel", gerade hier diese Postkarten auszulegen. "Die Kampagne ist von Anfang an so gründlich falsch konzipiert worden, dass sie hätte eingestampft werden müssen. Sie stellt Menschen mit Migrationshintergrund unter Generalverdacht", sagt Ünal.
Am 9. Juni 2004 war in der überwiegend von Türken bewohnten Straße eine Nagelbombe detoniert, 22 Menschen wurden verletzt. Kriminaltechnische Untersuchungen ergaben schließlich, dass der selbstgebaute Sprengsatz aus Schwarzpulver, Nägeln und einer Gasflasche bestanden hatte. Die Täter lösten ihn per Fernzündung aus. Die zehn Zentimeter langen und drei Millimeter dicken Eisenstifte durchschlugen Autos und zerfetzten Glasscheiben. Im Zuge der Ermittlungen musste die Polizei Fehler einräumen, so sind etwa Akten vernichtet worden.
"Die Keupstraße", schrieb die "Zeit" einmal, "ist wie ein bunter Hund in der großen Stadt." Es ist eine Welt für sich, mit etwa hundert Geschäften, in die sich selten ein deutscher Kunde verirrt: Konditoreien, Reisebüros, Cafés, Telefonshops. In der Schanzenstraße, einmal um die Ecke, liegen die Fernsehstudios, in denen Stefan Raab und Harald Schmidt ihre Sendungen produzierten. Doch das scheint meilenweit entfernt.