Juso-Chef Kühnert vor Parteitag "Ich wähle Andrea Nahles"
Beim Kampf um die Neuauflage der Großen Koalition waren sie noch Gegner. Dennoch will Juso-Chef Kevin Kühnert nun für Andrea Nahles als Parteichefin stimmen. Wie passt das zusammen?
SPIEGEL ONLINE: Herr Kühnert, Andrea Nahles oder Simone Lange - wen werden Sie am Sonntag wählen?
Kevin Kühnert: Das ist eine der schwierigsten Entscheidungen, die ich bislang treffen musste. Nach langem Abwägen und vielen Gesprächen habe ich mich entschieden: Ich wähle Andrea Nahles. Nicht aus Euphorie, sondern als Vertrauensvorschuss, der an Erwartungen geknüpft ist.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?
Kühnert: Es gibt viel Misstrauen in der SPD. Und jemand muss diesen Teufelskreis jetzt durchbrechen.
SPIEGEL ONLINE: Das kommt durchaus überraschend. Nahles steht für alles, wogegen Sie in den vergangenen Monaten gekämpft haben, vor allem für die Große Koalition.
Kühnert: Wir Jusos haben die Streitkultur in der Partei wiederbelebt. In Gremien und auf Parteitagen kann es jetzt wieder zu offenen Entscheidungen kommen - auch gegen den Willen der Führung. Die Worte von Vorsitzenden sind nicht mehr automatisch Gesetz. Auf dieser Grundlage brauche ich keine Vorsitzende, die mir nach dem Mund redet. Erneuerung bedeutet auch, Selbstbewusstsein an den Tag zu legen.
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SPIEGEL ONLINE: Simone Lange war auch gegen die GroKo.
Kühnert: Auf Nachfrage, ja.
SPIEGEL ONLINE: Und sie will wie Sie das Hartz-IV-System abschaffen. Nochmal: Warum entscheiden Sie sich gegen sie?
Kühnert: Es ist super, dass Simone Lange kandidiert. Das hat Bewegung in den Erneuerungsprozess gebracht. Sie hat einen Finger in die Wunde gelegt, weil sie an die Rückbesinnung von Werten appelliert. Aber wenn die Wunde heilen soll, reicht es nicht, nur den Finger da reinzulegen. Sondern der Heilungsprozess muss auch vorangetrieben werden. Dafür braucht es mehr als die bloße Kritik am Bestehenden, sondern vielmehr klare inhaltliche Vorstellungen, die über einzelne Schlagwörter hinausgehen. Das sehe ich bei Andrea Nahles mehr als bei Simone Lange, was jedoch nicht bedeuten muss, dass Andrea Nahles' Antworten zwingend immer meine Antworten sind.
SPIEGEL ONLINE: Hat Nahles Ihnen etwas angeboten, eine Gegenleistung für Ihre Unterstützung?
Kühnert: Nein, ich mache keine Deals. Wer auf die Tickermeldung wartet "Kühnert bekommt neuen Job", der wird vergeblich warten. Das wird nicht passieren. Ich erwarte von Nahles aber, uns und andere kritische Stimmen in der Partei ernst zu nehmen und uns Raum zur Debatte zu geben. Außerdem muss es die Bereitschaft geben, mit der bloßen Regierungslogik zu brechen, und eine Diskussionskultur von unten nach oben zuzulassen. Da habe ich den vorsichtigen Eindruck: Sie ist dazu bereit.
SPIEGEL ONLINE: Was macht Sie da so zuversichtlich?
Kühnert: Ich habe Nahles in den vergangenen Wochen, sowohl in den Sitzungen des Parteivorstands als auch in Vieraugengesprächen, als sehr nachdenklich erlebt. Sie weiß sehr wohl, dass wir als SPD vielleicht gerade auf unsere letzte Chance zusteuern. Aber auch als neue Vorsitzende würde sie es mit uns, wie alle ihre Vorgänger, nicht leicht haben. Versprochen.
SPIEGEL ONLINE: Empfehlen Sie ihren Mitgliedern auch, Nahles zu wählen?
Kühnert: Nein. Bei den Jusos gibt es dazu unterschiedliche Meinungen. Meine Wahl ist meine ganz persönliche Entscheidung. Ich verstehe auch alle, die zu einem anderen Ergebnis kommen. Denn die Gespräche, die ich mit Nahles hatte, konnten nicht alle führen. Vorsicht und Skepsis sind nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre allemal angebracht.
SPIEGEL ONLINE: Was erwarten Sie über die Wahl hinaus vom Parteitag?
Kühnert: Es wird zwei programmatische Reden geben, und die werden uns hoffentlich Orientierung im Erneuerungsprozess geben. Sie werden hoffentlich die Bereitschaft zeigen, nicht nur am Bestehenden ein bisschen herumzudoktern, sondern den Weg freizumachen für eine neue Debatte. Beispiel Hartz IV: Wir wollen keine historische Aufarbeitung betreiben, aber wir wollen die Grundlagen unseres Sozialstaats neu definieren. Und zwar nicht auf Basis von Hartz IV, sondern auf unseren Grundwerten. Da werden wir zu anderen Antworten kommen müssen.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass die SPD die gesamte Legislaturperiode in der Regierung bleibt und brav den GroKo-Juniorpartner macht?
Kühnert: Das hängt von der Arbeit der Koalition ab. Die Vereinbarung ist, dass wir nach der Hälfte der Zeit, also Ende nächsten Jahres, Kassensturz machen und schauen, ob das vertragsgemäß abläuft. Und wenn wir da zu einem negativen Ergebnis kommen, werden wir Jusos für den Ausstieg plädieren. Der Ausstieg aus der GroKo muss während dieser Legislaturperiode immer eine Option sein.
SPIEGEL ONLINE: Muss die SPD andere Regierungsoptionen vorbereiten?
Kühnert: Unbedingt. Das fordern wir schon lange. Die SPD hatte zuletzt ein strategisches Problem: Unsere einzige Regierungsoption war es, Juniorpartner in der Großen Koalition zu sein. Wer das aufbrechen will, muss schon vor den nächsten Wahlen mit anderen Parteien sprechen.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen Grüne und Linkspartei.
Kühnert: Rot-Rot-Grün funktioniert in zwei Bundesländern gut, in Rheinland-Pfalz funktioniert auch die Ampel ordentlich. Die SPD wäre gut beraten, sich diese Optionen bereitzuhalten. Und das heißt reden, reden, reden, gerade auch über das Trennende zwischen den Parteien.
SPIEGEL ONLINE: Wir haben viel über Nahles gesprochen. In der Regierung koordiniert Olaf Scholz die Arbeit der sozialdemokratischen Minister. Können Sie drei SPD-Positionen nennen, die Scholz vertritt?
Kühnert: Ende letzten Jahres war er für die Erhöhung des Mindestlohns, das hat mich gefreut. Ich hoffe, er erinnert sich noch daran. Leider steht er für die Politik der schwarzen Null, also einer sehr sklavischen Kettung an den ausgeglichenen Haushalt. Und er vertritt die Position der SPD, dass mehr europäische Zusammenarbeit notwendig ist, auch um dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen.
SPIEGEL ONLINE: Das waren jetzt zwei SPD-Positionen. Und im Vergleich zu Martin Schulz hat sich Scholz zum Thema Europa bislang eher zurückhaltend geäußert.
Kühnert: Das wird in der SPD noch diskutiert. Schulz' Vereinigte Staaten von Europa können wir Jusos uns gut vorstellen. Das ist aber der dritte Schritt vor dem ersten. Wir diskutieren jetzt über den Weg dahin, und da ist mir wichtig, dass die GroKo nicht noch hinter den Koalitionsvertrag zurückfällt. Äußerungen aus der Union lassen aber vermuten, dass die genau das versuchen.
SPIEGEL ONLINE: Scholz und Merkel stehen für einen ähnlichen Politikertypus, scheinen sich kaum zu unterscheiden. Wie soll die SPD so den Eindruck vermitteln, diesmal laufe es anders in der GroKo?
Kühnert: Wir brauchen nicht einen bestimmten Typus. Scholz ist so, wie er auftritt, authentisch. Der ist so. Aber die SPD braucht auch Leute, die anders auftreten. Deshalb halte ich die Kritik an Nahles für falsch, wenn sie sich um Pippi-Langstrumpf-Gesänge im Bundestag oder Bätschi-Sprüche auf Parteitagen dreht. Das ist ihre Persönlichkeit, damit werden wir leben müssen. Sie ist aber Politikerin und ich messe sie an ihren Inhalten.
SPIEGEL ONLINE: Schulz galt am Anfang seiner Kampagne auch als authentisch.
Kühnert: Andrea Nahles ist seit mehr als 20 Jahren in diesem Politikbetrieb und ist immer noch so, wie sie eben ist. Berater, die versuchen, sie durchzustylen, werden sich an ihr die Zähne ausbeißen. Und das ist auch gut.
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