Neonazi-Mordserie Geheimdienste stehen unter Versager-Verdacht
Wie konnte eine Neonazi-Truppe jahrelang unbehelligt morden und Terror verbreiten, obwohl ihre Mitglieder schon einschlägig aufgefallen waren? Immer heftiger üben Politiker jetzt Kritik an den Sicherheitsbehörden - und Experten warnen bereits vor weiteren rechtsextremen Terrorzellen.
Köln/Berlin - Deutschland steht unter Schock. Nachdem bekannt wurde, dass ein Neonazi-Trio zwischen 2000 und 2006 zehn Menschen in Deutschland ermordete, darunter neun Einwanderer, wird die Frage laut: Wie konnte das passieren?
Immer schärfer werden jetzt die Forderungen aus der Politik nach Konsequenzen aus der Mordserie - und die Kritik an den Sicherheitsbehörden: Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger verlangte eine Umstrukturierung des Verfassungsschutzes. Die Aufklärung habe "überhaupt nicht funktioniert" und Neonazis hätten mit für Deutschland "fürchterlichen Folgen" agieren können, sagte die FDP-Politikerin im Deutschlandfunk. Es müsse darüber geredet werden, ob der Verfassungsschutz mit 16 Landes- und einer Bundesbehörde "optimal organisiert" ist, forderte sie. Eventuell könnten mehrere Landesbehörden zusammengelegt werden. Ein neues NPD-Verbotsverfahren schloss sie aus, solange die Rolle der V-Männer nicht geklärt ist.
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) forderte in der "Bild"-Zeitung eine "bessere Verzahnung von Polizei und Verfassungsschutz auf Länderebene". Es sei "sehr beunruhigend, dass zwischen der Mordserie in ganz Deutschland und der rechtsextremen Szene in Thüringen kein Zusammenhang erkannt wurde", so Friedrich.
Schlicht Versagen beim Kampf gegen Rechtsextreme wirft die SPD dem Verfassungsschutz vor. "Es ist die Aufgabe der Nachrichtendienste, zu verhindern, dass sich terroristische Strukturen unerkannt bilden können", sagte der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann im ZDF-Morgenmagazin. "Auf jeden Fall hat hier der Verfassungsschutz versagt und wir müssen klären, warum." Dass das Jenaer Neonazi-Trio 13 Jahre lang unbemerkt bleiben konnte, sei in keiner Weise nachvollziehbar. "Diese drei Terroristen waren ja im Visier des Verfassungsschutzes, sie waren schon straffällig geworden", sagte Oppermann. Wie drei gefährliche, gewaltbereite Menschen in den Untergrund abdriften könnten, sei dringend erklärungsbedürftig. "Warum hat nicht mal jemand bei den Eltern nachgefragt, wo die verblieben sind?"
Rechtsextremismus-Experte: "Extreme Verharmlosung"
Immer mehr erschreckende Details der Mordserie werden bekannt: In einem 15-minütigen Film, der dem SPIEGEL vorliegt, rühmen sich die Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, insgesamt zehn Menschen ermordet zu haben: zwischen 2000 und 2006 acht türkische Einwanderer und einen Griechen, 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter. In dem Bekennervideo erklären sich die Männer auch verantwortlich für einen Nagelbombenanschlag in einer überwiegend von türkischen Einwanderern bewohnten Straße in Köln.
Mundlos und Böhnhardt nahmen sich vor zehn Tagen das Leben, ihre mutmaßliche Komplizin Beate Zschäpe setzte die gemeinsame Wohnung in Zwickau in Brand und stellte sich später der Polizei. Am Sonntagabend wurde Haftbefehl gegen die Frau erlassen: Es bestehe ein dringender Verdacht "der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung", teilte die Bundesanwaltschaft mit.
Mit dem Fall will sich am Dienstag auch das für die Kontrolle der Geheimdienste zuständige Parlamentarische Kontrollgremium befassen, dessen Vorsitzender Oppermann ist. "Wir müssen diesen Sachverhalt schnell und genau aufklären und sicherstellen, dass sich so etwas nie wiederholt", sagte der SPD-Politiker. Oppermann forderte in diesem Zusammenhang auch ein Verbot der NPD. "Auch wenn sie nicht direkt mit der Gruppe in Kontakt gewesen sein mag: Sie schafft das geistige Umfeld für Rechtsextremismus in Deutschland." Auch Politiker anderer Parteien brachten ein NPD-Verbotsverfahren ins Spiel.
Nach Ansicht des Rechtsextremismus-Experten Hajo Funke ist die Gewaltbereitschaft neonazistischer Gruppen in Deutschland stark unterschätzt worden. Die extreme Verharmlosung sei einer der Gründe, dass dieses Mördertrio sich habe verselbstständigen können, sagte Funke im ZDF. Dass hinter dem Neonazi-Trio aus Jena ein größeres Netzwerk steht, glaubt Funke nicht. Es könne aber zahlreiche andere Kleingruppen geben, die seit Jahren ähnlich agieren.
Inzwischen gibt es Erkenntnisse, dass der im Zusammenhang mit der Mordserie am Wochenende festgenommene Holger G. aus Niedersachsen seit Jahren in der Neonazi-Szene aktiv gewesen sein soll. Nach Informationen des "Weser-Kuriers" seien diese Aktivitäten dem Verfassungs- und Staatsschutz des Landes seit der Jahrtausendwende bekannt gewesen, berichtete die in Bremen erscheinende Zeitung.
Auch die Sprecherin des niedersächsischen Verfassungsschutzes hatte im NDR-Fernsehen gesagt, dass die Behörde erstmals 1999 Erkenntnisse über den Mann gewann. Er beteiligte sich demnach an rechten Demonstrationen. Aktuell und in den zurückliegenden Jahren seien aber keine neuen Informationen über ihn gespeichert worden. Holger G. soll dem Neonazi-Trio 2007 seinen Führerschein und vor vier Monaten auch seinen Reisepass zur Verfügung gestellt haben. Zudem soll er laut Bundesanwaltschaft mehrfach Wohnmobile für die drei Rechtsextremisten angemietet haben.
Auch zur Herkunft der Tatwaffe bei den sogenannten Döner-Morden sind neue Details bekanntgeworden: Die Pistole des Typs Ceska 83, Kaliber 7,65 Millimeter, stammt offenbar aus der Schweiz. Einen entsprechenden Bericht des "Tages-Anzeigers" bestätigte Danièle Bersier, Pressesprecher des Bundesamts für Polizei in Bern. Der tschechische Hersteller habe die Waffe ausschließlich in den Kanton Solothurn geliefert, berichtete die Zeitung. Von der speziellen Serie existierten nur 24 Stück. Wie die Zwickauer Neonazis an die Waffe gelangten, ist nicht bekannt.
anr/dpa/dapd