
Die Lage am Freitag Liebe Leserin, lieber Leser,
es ist soweit: In Hamburg werden die 1001 Delegierten des CDU-Parteitags über die Nachfolge der Vorsitzenden Angela Merkel abstimmen. Eine Ära geht zu Ende, und die Partei kann sich dem wohligen Gefühl hingeben, dass sie in aller Munde ist. Ein sagenhaftes Plus von vier Prozentpunkten vermeldet der Deutschlandtrend der ARD für die Union. Das Kandidatenrennen der vergangenen Wochen, die neue Lust am Debattieren und Streiten, kommt offenkundig bei vielen Wähler gut an.
Es gibt nur Mutmaßungen über den Ausgang dieses Tages, die einen sehen Friedrich Merz vorne, die anderen Annegret Kramp-Karrenbauer. Sicher ist lediglich: Kaum jemand setzt noch auf einen Sieg von Jens Spahn. Die Wahl findet geheim statt, wer die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht, ist gewählt. Das kann deshalb auch bedeuten, dass es zu einer Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten kommt, falls keiner der Kandidaten im ersten Durchgang klar gewinnt. Aber irgendwann am Nachmittag oder frühen Abend werden wir Klarheit haben. SPIEGEL ONLINE berichtet live vom Parteitag. Alles, was Sie vorher zu der Wahl wissen müssen, lesen Sie hier.
Merz kann einen Saal mitreißen
Was auch immer Sterndeuter oder Buchmacher voraussagen, vergessen Sie es. Bei Parteitagen können sich ganz eigene Dynamiken entfalten, ein entscheidender Faktor können zum Beispiel die Vorstellungsreden der Kandidaten sein. Von Friedrich Merz weiß man, dass er ein guter Redner ist, der einen Saal mitreißen kann. Darauf wird er setzen und vielleicht die Rede seines Lebens halten, um schwankende Parteifreunde zu überzeugen. Umgekehrt wirkt Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrer unaufgeregten Art wie das personifizierte Versprechen auf Kontinuität, etwas langweilig eben, aber verlässlich. Ist es das, was die Delegierten wollen? Ein beherztes Weiter-so im gefühlten deutschen Mainstream? Oder gehen sie doch mit Merz ins Risiko?
Teamplayer gesucht
Sollte sich die CDU für Merz aussprechen, hätte dies natürlich einen gewissen Reiz, es wäre aber auch ein großes Experiment. Als Mann der Wirtschaft verkörpert Merz die Sehnsucht vieler nach einer neuen Dynamik, nach neuen Ideen und frischem Wind. Die CDU ist aber kein Unternehmen und Politik funktioniert nach anderen Gesetzmäßigkeiten als ein Private-Equity-Fonds. Da müssen Mehrheiten erkämpft werden und Menschen geduldig "mitgenommen" werden, wie man so schön sagt. Kann er das? Die Älteren erinnern sich noch gut, dass Merz als Fraktionsvorsitzender nicht unbedingt ein überragender Mannschaftsspieler war. Er wollte partout nicht mit Merkel zusammenarbeiten.
Es war zum Teil lächerlich: Die beiden stritten um jedes Komma in Beschlüssen, um Kompetenzen und vor allem um die Frage: Wer führt, wer folgt? So wird es trotz aller Kameradschaftsbekundungen womöglich auch diesmal wieder sein. Merz ist der Typ Macher, der sich selbst zum größten Teamplayer ausruft, solange sichergestellt ist, dass er stets das letzte Wort hat. Gewinnt er heute den Parteivorsitz, wird Merz bald nach der ganzen Macht, sprich nach dem Kanzleramt, greifen. Wenn Merkel sich nicht fügt, steht der Union, ja, dem ganzen Land, ein unschöner Machtkampf bevor, der sich viele Monate hinziehen kann und der die Spaltung der Partei vertiefen wird.
Kramp-Karrenbauer ist auch kein Garant für Erfolg
Bei einem Erfolg von Kramp-Karrenbauer könnte sich auch Angela Merkel als Siegerin fühlen. Sie hätte ihre Favoritin auf den Parteivorsitz durchgesetzt und für eine Übergangszeit die Macht im Kanzleramt abgesichert. Das muss noch nicht bedeuten, dass Kramp-Karrenbauer auch Merkels Nachfolgerin im Kanzleramt wird. Andere mögliche Kanzlerkandidaten für die Wahl 2021 wie der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet werden darauf bestehen, dass es hier keinen Automatismus gibt. Und dass Kramp-Karrenbauer die Union unbedingt in eine rosigere Zukunft führt, ist auch nicht garantiert. Dafür sind die Kräfte, die derzeit die Parteiensysteme in Deutschland und in ganz Europa durcheinanderwirbeln, vielleicht schon zu stark.
Verlierer des Tages
... die stehen noch nicht fest. So oder so ist klar: Jeder neue Vorsitzende/jede Vorsitzende wird in den kommenden Monaten das Kunststück fertigbringen müssen, die Union wieder mit sich selbst zu versöhnen. Der Kampf um den Parteivorsitz hat die Bruchlinien in der Partei offen zutage treten lassen. Sowohl Merz als auch Kramp-Karrenbauer werden dauerhaft nur überleben, wenn sie alle drei Flügel der Partei integrieren: die Konservativen, die christlich-sozialen Arbeitnehmer und die Liberalen. Die Arbeit beginnt schon eine Minute nach der Wahl, wenn sich die Frage stellt: Was tun mit den Verlierern dieses Tages?
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Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Ihr Roland Nelles