
Die Lage am Freitag Liebe Leserin, lieber Leser,
Politik nimmt manchmal seltsame Wendungen. Es ist erst ein paar Wochen her, da wäre die Regierung fast über der Frage zerbrochen, ob an drei deutschen Grenzübergängen Flüchtlinge zurückgewiesen werden dürfen oder nicht. Der Streit war im Grunde lächerlich, er drehte sich, wenn überhaupt, um ein paar wenige Menschen am Tag, aber um die Sache ging es nicht, sondern ums Symbol. Der Konflikt zwischen der Kanzlerin und den Christsozialen wurde dann mühsam mit einem Formelkompromiss zugekleistert, den aber die SPD nur mittragen wollte, wenn es noch im diesem Jahr ein Einwanderungsgesetz gibt.
Nun hat Innenminister Horst Seehofer die Eckpunkte für die Regelung vorgelegt. Sie sind, wenn man so will, das schöne Ergebnis eines sehr hässlichen Streits.
Unter den Trümmern liegt die Vernunft
Die politische Debatte über den Brückeneinsturz von Genua nimmt immer absurdere Züge an. Erst stellte Italiens Innenminister Matteo Salvini den Verdacht in den Raum, der Brüsseler Sparzwang sei der Grund für die Katastrophe; nun sagte er, er wisse, wie die Schuldigen aussähen. Sie hätten "gebräunte Gesichter" und redeten nur über Geld.
Damit meinte er ganz offenkundig nicht die Bürokraten in Brüssel, sondern die Familie Benetton, die über ein kompliziertes Konstrukt an den italienischen Autobahnen beteiligt ist. Dass zwischendurch die Brüsseler Kommission die Vorwürfe aus dem römischen Innenministerium scharf zurückgewiesen hatte, interessierte Salvini schon gar nicht mehr. Er hatte ja schon ein neues Opfer für seine Tiraden gefunden. Dass die Ursache für den Einsturz immer noch unklar ist, ging in dem ganzen Lärm fast unter.
Deutsche Weindiplomatie
Die Außenpolitik der Bundesrepublik hat sich jahrzehntelang durch große Zurückhaltung ausgezeichnet, kein Pomp, keine Machtgesten, kein Säbelrasseln. Selbst der Wein, der bei offiziellen Anlässen ausgeschenkt wurde, zeugte von Bescheidenheit. Als im Jahr 1955 der Schah von Persien nach Deutschland reiste, ließ Bundespräsident Theodor Heuss einen schlichten Lemberger auffahren. Vom ehemaligen SPD-Kanzler Helmut Schmidt weiß man, dass er am liebsten Cola trank. Sein Motto bei Staatsempfängen: "Der Wein ist mir egal, das Essen ist mir egal, aber mir ist nicht egal, wer zum Essen eingeladen wird." Anfang September wird ein Buch erscheinen, das die Geschichte der Bundesrepublik als Geschichte der offiziellen Weinverkostung beschreibt. Mein Kollege Konstantin von Hammerstein hat es schon gelesen, seinen Text können Sie ab 18 Uhr im neuen SPIEGEL lesen.
Gewinner des Tages...
...ist der Jäger und Sammler. Wer dachte, es sei für den frühen Menschen Pein und Last gewesen, durch die Wälder zu ziehen, um nach Früchten zu suchen und Wild zu erlegen, der muss sein Bild der Menschheitsgeschichte revidieren. Mein Kollege Manfred Dworschak hat aufgeschrieben, dass das menschliche Drama so richtig erst mit dem Ackerbau einsetzte, als die Menschen dazu gezwungen wurden, sich auf den Feldern abzuplagen. Für die Bauern war der Übergang zur neuen Zeit eher ein Rückschritt, wer profitierte, waren die Herrscher, die über ihre Steuereintreiber den Untertanen das mühsam erzeugte Getreide wieder abnahmen. "Sicher ist: Bevor die Menschheit sich zur Landwirtschaft bekehrte, bot das Leben mehr Abwechslung", schreibt Dworschak. "Das wenige, das diese Menschen besaßen, wurde geteilt; sie lebten fast egalitär bis in den Tod, in ihren Grabstätten finden sich keine Hinweise auf eine privilegierte Herrscherkaste."
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Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Freitag und einen guten Start ins Wochenende.
Ihr René Pfister