Neuer Fotoband So sieht das andere Sylt aus
Gewittergrauer Himmel, leere Campingplätze, Polizisten als Models: Ein neuer Bildband zeigt die Nordseeinsel Sylt jenseits der Klischees. Fotos aus 50 Jahren ergeben ein Porträt, das selbst innige Westerland-Liebhaber überraschen dürfte.
"Es ist zwar etwas teurer, dafür ist man unter sich", sang die Punkrock-Band Die Ärzte in ihrem Liebeslied über Sylt. Ach, Sylt. Diese Insel ist einfach nicht wie Amrum oder Usedom: Sie polarisiert. Die einen würden nie auch nur einen Fuß darauf setzen, die anderen kommen jedes Jahr mehrfach.
Diese Hassliebe spiegelt sich auch in dem Fotoband "Sylt im Spiegel zeitgenössischer Fotografie", der nun im Hatje Cantz Verlag erschienen ist. Schon auf dem Cover spielt das Buch mit den Klischees - von wegen Trauminsel mit Traumwetter. Das Meer tobt, die Gischt spritzt, die Wolken türmen sich, alles in Orkangrün und Gewittergrau. Das Foto ist von Peter Bialobrzeski, der findet: "Das schöne Wetter ist verhaftet mit der Postkarte, ich habe immer dagegen an fotografiert. Man muss nicht Bilder machen, die es schon gibt."
Er macht stattdessen Bilder von Orten, die es nicht gibt - zum Beispiel von nicht existenten Strandstellen. Bialobrzeski hat für seine Serie verschiedene Küstenfotos zu einem neuen zusammengebaut. Name des Projekts: "Rungholt", wie jene versunkene Stadt, von der keiner so genau weiß, wo sie eigentlich lag. Für Bialobrzeski steht das für die geografische Schwindsucht Sylts und den sich daher ständig verändernden Küstenstreifen. Die Künstlichkeit seiner Bilder passt zur Fragilität der Insel: "Die Hauspreise in Kampen sind fiktional", sagt Bialobrzeski. "Wenn dort etwas von der Küste abbricht, ist da nichts mehr."
Schon allein deshalb ist der Bildband ein Zeitdokument. Herausgeber Dennis Brudna hat Fotos aus mehreren Jahrzehnten zusammengetragen. Die Werke von zwei Dutzend Fotografen bilden hier kaleidoskopartig die Insel ab, die meisten davon entstanden in den vergangenen Jahren im Rahmen eines Sylter Fotostipendiums. Es sind die guten wie schlechten Vorurteile, die man über Sylt hat, die von vorneherein den Blick auf jene Insel prägen, die seit der Nachkriegszeit vor allem vom Tourismus lebt. Eine halbe Million Übernachtungsgäste vermeldete die Sylter Tourismuszentrale kürzlich für 2011, mehr als im Jahr zuvor. Die meisten Urlauber sind über 60 Jahre alt.
"Achtung! Stolper- und Sturzrisiko!"
Auch die Fotografin Julia Baier hatte diese Schablonen im Kopf: die Dünen im Abendlicht, die Boutiquen in Kampen. "Schwarzweiß-Fotografie erleichtert es einem, Klischees zu durchbrechen", sagt sie. "Die Schönheit des Sylter Abendhimmels kann ich mit meinen Mitteln ohnehin nicht einfangen." Ihre Fotos im Buch zeigen also etwas anderes: Willi, das Kegelrobbenweibchen, das im Hafen von Hörnum die Hauptattraktion ist. Die Touristen kaufen an einem eigens zu diesem Zweck aufgebauten Stand Heringe für das Tier, die Robbe taucht auf, um sich füttern zu lassen - und lässt sich dabei knipsen. "Ich stellte schnell fest, dass auf Sylt alles ritualisiert abläuft", sagt Baier. Eines der Touristen-Rituale hielt sie mit der Kamera fest.
Den Alltag der Sylter zeigt das Buch natürlich auch. Seien es die Porträts der Wasserballer vom TV Keitum von Ingar Krauss, aufgenommen vor der Kachelwand eines beliebigen Hallenbads, oder Martin Liebschers herrliches zusammengepuzzeltes Panoramabild aus der Produktionshalle einer Getränkefirma - ausgerechnet des Mineralwasserherstellers Sylt Quelle. Der tschechische Fotograf Martin Kollar zeigt die Ordnungsfreude der Sylter, seine Serie mit Verbotsschildern strotzt vor Ausrufezeichen und Dada-Sprache: "Privat", "Achtung! Stolper- und Sturzrisiko".
Auch die Fotoserie von Julia Maria Max bricht mit Erwartungshaltungen: Sie zeigt Polizisten, die in marineblauen Uniformen in ihrem Revier posieren. Auf Sylt also, in den Dünen, das Meer im Hintergrund. Ähnlich wirkt da auch Jörg Brüggemanns Fokus auf eine andere Berufsgruppe, die arbeitet, wenn alle anderen genau das nicht machen: Er lichtete Rettungsschwimmer ab, die Dienst schieben, egal ob die Sonne knallt oder alles diesig verhangen ist; manche mit dem Fernglas in der Hand, andere ruhen sich einfach nur aus.
Lieblingswetter: graue Wolken
Dass sich Altbekanntes immer wieder findet, und zwar quer durch die Jahrzehnte bis heute, zeigt auch, wie statisch die Insel ist. Genau deshalb kommen Gäste wohl immer wieder, es verändert sich einfach nichts. Bleiche Badende gab es schon von Robert Lebeck in den sechziger Jahren und zehn Jahre später von Volker Hinz - diesmal inklusive Sandburg. Ähnliche Wiedergänger sind die atomartigen Strandbrecher, die Konzertmuschel in Westerland. Und polierte Porsche und andere Luxuskarossen, Stoßstange an Stoßstange, und im Cabrio sitzt ein Riesenpudel.
"Ich hatte Bauchschmerzen, dass der Tourismus hier viel stärkere Spuren hinterlassen haben könnte", sagt die Fotografin Grit Schwerdtfeger, die wie Baier 2007 einen Monat auf Sylt verbrachte, um zu fotografieren. Es war ihr erstes Mal auf der Insel, "aber ich war angenehm überrascht". Sie war im Oktober da, es war verhangen und grau. "Mein absolutes Lieblingswetter", sagt sie, "mit blauem Himmel kann ich nicht umgehen." Ihr Faible für Herbstwetter sieht man Schwerdtfegers Bildern an. "Es ist nicht eindeutig Sylt, es hat etwas Ortloses, Zeitloses", findet die Leipzigerin, die an der Fotografieschule der Agentur Ostkreuz unterrichtet.
Schwerdtfeger verbrachte fast jeden Tag woanders und blieb ein wenig: "Es ist wichtig, an den Orten auch zu verweilen, sie verändern sich ja auch." Die Ebbe, die Flut, sie verschieben die Weite des Meers, die horizontalen Linien, die am Wasser so präsent sind. Sie richtet die Kamera auf jene Landschaftsräume, die zeigen, dass der Mensch seine Spuren hinterlassen hat. Da ist der Zaun am Strand, die Bude, der Campingplatz.
Zu Campingplätzen nach Saisonende entstand eine ganze Serie. Die hellen Flecken im Gras, wo die Wagen und Anhänger gestanden hatten, zeugten als Einziges noch von den Urlaubern. Schwerdtfeger fotografierte die Narben, und die Tische, Stühle, Satellitenschüsseln, die in Plastikplanen eingewickelt in Haufen daneben lagen.
Baier und Schwerdtfeger sind wie der Rest Deutschlands. Die eine ist mit der Insel durch, sie habe sie "durchfotografiert", da sei nichts mehr, was sie noch ablichten wolle. Die andere will wiederkommen. Dann vielleicht, wenn das Licht anders ist. Im Winter.