Everest-Tourismus "Die haben mehr Glück als Verstand"
Als Kind hasste sie die Berge, heute sind sie ihr Leben - Billi Bierling arbeitet in Nepal als Assistentin der berühmten Everest-Chronistin Elizabeth Hawley. Jetzt ist sie selbst auf den höchsten Gipfel der Welt geklettert. Und war schockiert von der Naivität mancher Achttausender-Touristen.
"Namaste, wo kann ich mein Fahrrad abstellen?", fragt Billi Bierling den Kellner in Katmandus Touristenviertel Thamel auf nepalesisch. Das graue Mountainbike ist das Erkennungszeichen der 42-Jährigen aus Garmisch-Partenkirchen - und unverzichtbares Hilfsmittel für ihre Arbeit: "In einem Auto würde ich bei dem chaotischen Verkehr hier wahnsinnig werden", sagt sie.
Durch ein Gemenge aus Staub, hupenden Kleinwagen, Rikschas und Straßenhändlern bahnt sie sich täglich den Weg durch die schmalen, bürgersteiglosen Straßen zu den Hotels der nepalesischen Hauptstadt. Dort interviewt sie als Assistentin der berühmten Himalaja-Archivarin Elizabeth Hawley Bergsteiger vor und nach ihren Expeditionen. Die Hawleysche Datenbank enthält alle Details von Himalajaexpeditionen seit 1963: Welche Route wurde genommen, wer hat wann den Gipfel erreicht, wurde künstlicher Sauerstoff benötigt, wie war das Wetter, gab es Unfälle?
Besonders die Monate vor und nach der Regenzeit seien "wahnsinnig arbeitsintensiv", so Bierling. Ab März nimmt sie Kontakt zu ungefähr 60 Trekkingagenturen in Nepals Hauptstadt Katmandu auf und fragt nach: Habt ihr in dieser Saison Expeditionen, mit welchem Flug kommen sie an, in welches Hotel werden sie einchecken?
Die handschriftlich festgehaltenen Interviews werden hinterher von Miss Hawley persönlich in ihre Datenbank eingegeben. Gerüchten zufolge hat eine Affäre mit Edmund Hillary, der 1953 zusammen mit Sherpa Tenzing Norgay als Erster den Everest bestieg, Hawleys Leidenschaft entfacht. Fakt ist, dass sie 1963 als Journalistin die erste große US-amerikanische Everestbesteigung begleitete. Seither sammelt sie alles über die Himalajas und ist unter Bergsteigern längst eine Legende.
Fünf Euro pro Interview
Auch Bierling ist in Katmandu mittlerweile bekannt wie ein bunter Hund - und, was noch wichtiger ist, in der Bergsteigerwelt akzeptiert. "Aber das war ein langer Weg", erinnert sie sich. "Frauen und Berge, das passt für viele nicht zusammen." 500 Nepalesische Rupien, knapp fünf Euro, verdient Bierling pro Interview. Sie würde sogar ohne Bezahlung arbeiten, es sei ein richtiges Hobby geworden.
Die Leidenschaft für die Berge wurde der Bayerin jedoch nicht in die Wiege gelegt. Sie habe "die Berge gehasst", erinnert sie sich. Wie so viele, die in jungen Jahren mit ihren Eltern wandern gehen mussten, setzte Bierling jahrelang keinen Fuß mehr auf einen Berg. Ihr Vater bot ihr sogar Geld an, damit sie mit ihm Laufen geht. Erst die Liebe zu einem Kletterer hat sie 1998 zum ersten Mal in den Himalaja gelockt.
Post für Frau Hawley
2004 zog die Übersetzerin und Journalistin, die zuvor zehn Jahre in London und vier Jahre in Bern gelebt hatte, endgültig in die nepalesische Hauptstadt. Vorher schrieb sie Miss Hawley einen Brief und fragte, ob sie Hilfe gebrauchen könnte. "Ich habe allerdings nicht mit einer Antwort gerechnet, schon gar nicht mit einer positiven."
Mehrere Gipfel hat Bierling seitdem erstürmt, mittlerweile leitet sie selbst Expeditionen auf Sechstausender. Um endlich richtig mitreden zu können, um zu wissen, "wie es dort oben aussieht", nahm sie kürzlich an einer Expedition auf den Mount Everest teil. Am 21. Mai um 9.45 Uhr stand Bierling für eine Viertelstunde auf 8848 Metern, dem höchsten Punkt der Erde.
Damit ist sie die erste deutsche Frau, die erfolgreich den Mount Everest von nepalesischer Seite aus erklommen hat - und lebend wieder zurückgekommen ist. Vor 30 Jahren gelang bereits der Bayerin Hannelore Schmatz der Aufstieg über die Südseite, sie starb jedoch beim Abstieg vor Erschöpfung.
Außerhalb der Saison, wenn der Tourismus auf Sparflamme läuft, schreibt Bierling Artikel für Bergsteigermagazine, deutsche Tageszeitungen und englischsprachige Radiosender. "Da verbringe ich auch mal einen Tag zu Hause und einen Abend vor dem Fernseher." Mit einem Engländer und einer Holländerin teilt sie sich eine Wohnung - für weniger als 40 Euro im Monat. Ein konventionelles Leben in Deutschland mit Haus, Kind und Hund wäre nichts für sie: "Ja mei, das hab ich eigentlich nie gewollt," sagt sie und bestellt sich noch ein Lassi.
Schlechtes Gewissen wegen der Armut
Obgleich Streiks, Ausgangssperren und politische Unruhen sowie stundenlange Stromausfälle in Nepal zum Alltag gehören, gehe Bierling hier "nichts ab". "Für mich wäre es mittlerweile langweilig, irgendwo zu leben, wo alles funktioniert", sagt sie mit einem Lächeln in ihrem gebräunten, wettergegerbten Gesicht.
Wenn es mal wieder nur nachts Strom gibt, steht sie auch um drei Uhr morgens auf, um E-Mails zu schreiben. Nachdem sie Tausende von Euro für eine Besteigung ausgegeben hatte, musste sie lernen, ihr schlechtes Gewissen gegenüber den Straßenkindern und der offensichtlichen Armut abzulegen. "Sonst kannst du hier nicht leben."
Außer ihrer Familie und einer zuverlässigen Elektrizitätsversorgung vermisst sie eigentlich nur guten Käse und deutsches Brot. In Europa fehle ihr schnell das chaotische Leben von Katmandu, die lachenden Gesichter der Einheimischen und natürlich die Berge des Himalaja. Das Ausmaß des kommerziellen Tourismus am Everest hat Bierling trotz ihrer jahrelangen Arbeit überrascht. In der Hochsaison im Mai leben etwa 700 Menschen im Basislager auf 5350 Metern Höhe - dort gibt es heiße Duschen und sogar eine Bäckerei.
Manche Gipfel-Aspiranten sind jedoch alles andere als Bergprofis. "Viele wissen nicht einmal, wie man Steigeisen anzieht oder einen Eispickel hält." Noch erstaunlicher fand sie, dass sie ihren Eispickel überhaupt nicht gebraucht hat auf dem Weg zum Gipfel. "Wer ein alpines Erlebnis sucht, sollte nicht zum Everest", resümiert sie. Ohne die Sherpas und die Infrastruktur, zum Beispiel Fixseile bis hoch zum Gipfel, würden aus ihrer Sicht 90 Prozent der Bergsteiger nicht hochkommen.
Mehr als 4000 Bergsteiger, darunter ungefähr 200 Frauen, haben bislang den höchsten Berg der Erde erklommen; mehr als zwei Drittel der Expeditionen fanden in den vergangenen 15 Jahren statt. Einige Agenturen bieten mittlerweile "Billigbesteigungen" ab 20.000 Euro an. "Da gibt es dann allerdings häufig weder die richtige Ausrüstung noch genügend Sauerstoff oder gutes Essen", sagt Bierling.
20 Bergsteiger an einem Fixseil
Auch während ihrer Interviews habe sie schon oft gedacht: "Die haben aber mehr Glück als Verstand. Mir wird schlecht, wenn ich sehe, wie sich 20 Leute gleichzeitig vertrauensvoll an ein Fixseil hängen. Bevor die großen Expeditionen kamen, wussten die Leute noch, was sie tun." Seine Ausstrahlung und Faszination habe der Everest jedoch nicht verloren.
Ungefähr 40.000 Euro hat sie für ihre Everestbesteigung gezahlt. Dafür bekam sie die Chance, vielleicht auf dem Gipfel des Mount Everest zu stehen. Gesichert war eine erstklassige Verpflegung im Basislager. Ein neuseeländischer Koch versorgte die Truppe mit Mousse au Chocolat und frischen Erdbeeren, die per Helikopter aus Katmandu eingeflogen wurden. Abends schauten sie auf dem Flachbildfernseher im Kinozelt DVDs. Im Zelt einer russischen Truppe gab es nicht nur literweise Wodka, sondern sogar drahtloses Internet, für das der Expeditionsleiter 5000 Dollar im Monat hinblätterte. "Das ist schon ziemlich verrückt", sagt Bierling.
Das Geld für ihre Everestbesteigung verdiente Bierling sich durch einen sechsmonatigen Job bei der Uno in Jerusalem. Als Journalistin steht sie auf einer sogenannten Notfallliste der Schweizer Entwicklungshilfe, die Mitarbeiter für befristete Zeit an internationale Organisationen vermittelt. Nach Garmisch zieht es sie einzig an Weihnachten und in der Regenzeit im Juli und August. Während des Monsuns kann man in Nepal nämlich weder gut Bergsteigen noch Radfahren.