Autoren Korrekturen der Freiheit
Fast neun Jahre brauchte der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen für sein neues Buch "Freiheit". Geplagt von Schreibblockaden und Depressionen, ist ihm die Neuauflage des großen amerikanischen Romans gelungen.
Das Schmerzhafte am Romanschreiben, so wird es Jonathan Franzen später an diesem Vormittag sagen, ist es, sich immer wieder seinem eigenen verkorksten Kopf zu stellen. Sich immer wieder neu zu vermessen, eine Beziehung zu seinen Figuren und seinem Stoff zu erkämpfen. Diese Arbeit ist fürchterlich, und sie führt regelmäßig zu ziemlich ernsthaften Depressionen.
An diesem Tag, Mitte August in seinem Haus in Kalifornien, viel zu kühle 20 Grad, Nebel über der Küste, hat Jonathan Franzen neun solcher Jahre hinter sich. Er hat versucht, den nächsten großen Roman zu schreiben, es sollte ein politischer Roman werden, doch er hat die fertigen Seiten immer wieder weggeschmissen. Er hat sich Pausen verordnet, es mit Journalismus versucht und deprimiert damit aufgehört, ist in grausige Löcher gefallen, musste sich irgendwann zwingen, überhaupt das Bett zu verlassen, hat sich zum ersten Mal im Leben Urlaub verordnet, sich in die Wälder gelegt und Vögel beobachtet, ist bald rastlos geworden und hat plötzlich diesen Roman schreiben können, der nun erscheint.
Da war sein bester Freund gestorben. David Foster Wallace, wie Franzen ebenfalls ein großer Schriftsteller, hatte sich, weil er seine Depressionen nicht mehr aushielt, im Herbst 2008 erhängt. Neben seiner Trauer spürte Franzen vor allem große Wut auf seinen Freund Dave und dessen egoistischen Märtyrertod. Und plötzlich, nach Jahren des "Sich-gegen-die-Wand-Werfens", wie er sagt, konnte Franzen schreiben. Er war frei. Er hatte Energie. Er schrieb über 700 Seiten in einem Jahr. Der Roman heißt "Freiheit".
Das ist ein bewusst scheußlicher Titel, trotzdem hat das Buch schon Wochen vor seinem Erscheinen in den USA eine Hysterie ausgelöst, wie man es einem Buch kaum noch zugetraut hätte in der heuti-gen "Gibt's-das-auch-fürs-iPad?"-Zeit. Das Nachrichtenmagazin "Time" hat Franzen auf sein Titelbild gehievt, dorthin haben es in den vergangenen 80 Jahren nur die ganz Großen geschafft, Salinger und Nabokov, Toni Morrison, Joyce und Updike. Die heißeste Nachricht lautet, dass Barack Obama sich unter Einsatz all seiner präsidialen Macht ein Vorabexemplar von "Freiheit" besorgt und auf Martha's Vineyard sofort mit der Lektüre begonnen haben soll.
Jonathan Franzen hätte also alle Voraussetzungen, ein glücklicher Mann zu sein. Am Tag zuvor ist er hier in Santa Cruz eingetroffen, in seinem Zweithaus an der Pazifikküste, 100 Kilometer südlich von San Francisco. Er, der große Natur- und Tierfreund, kann von seiner Veranda über eine zugewucherte Schlucht bis zum Pazifik blicken und seine Vögel beobachten, Truthahngeier, Rotschwanzbussarde, Olivflanken-Schnäppertyrannen. Franzen kommt gerade aus Bolivien, hat eine etwas müde Freundlichkeit aufgelegt und sagt, er sei noch ein wenig angeschlagen. Was er in Bolivien gemacht habe?
"Na ja, es hatte auch zu tun mit ...", Franzen vernuschelt auf der Veranda stehend das letzte Wort in einen Regenstoß hinein und blickt weg.
Womit hatte es zu tun?
"Na, mit Vögeln", sagt er, und es klingt, als sei ihm dieses Hobby selbst etwas peinlich, als hätte ein Schriftsteller sich überlegt, welches Hobby die perfekte Metapher für die Schriftstellerarbeit abgeben würde: genau hinsehen, Geduld haben und schließlich das Schöne und Wahre im Kleinen entdecken.
Auf dem langen, leeren Esszimmertisch liegt die "Time"-Ausgabe. Er habe dazu einen Haufen E-Mails auf seiner Abfrage, sagt Franzen, als müsse er diesen Haufen E-Mails in einen Rucksack packen und für den Rest seines Leben auf dem Rücken tragen. Das Foto zeigt einen grimmigen, merkwürdig in sich gekehrten Mann. Und auch der Mann, der in Jeans und Pullover vor dem Esstisch steht und skeptisch auf die Zeitschrift blickt, wirkt nicht wie jemand, der eine unlösbar scheinende Aufgabe endlich bewältigt hat.
"Großer amerikanischer Schriftsteller" steht unter Franzens Foto und: "In seinem neuen Roman ,Freiheit' zeigt Jonathan Franzen uns, wie wir heute leben."
"The way we live now". Größer kann man es nicht formulieren, und darin spiegelt sich die Forderung nach etwas, das Literatur früher konnte: zeigen, wie die Welt funktioniert, freischälen, was in ihr schiefläuft, Verständnis schaffen für die eigenen existentiellen Unsicherheiten. Es war in den vergangenen Jahren nicht mehr klar, ob Literatur diese Kraft noch sein kann. Franzen ist selbstbewusst genug, dass er glaubt, diesen Job übernehmen zu müssen: ein Ziel, an dem man auch verzweifeln kann.
Meistens kamen die Depressionen für ein paar Wochen, sagt Franzen. An Schreiben ist dann nicht mehr zu denken. Die übliche schlechte Laune ist perfekt zum Schreiben, aber nicht dieser böse Geschmack von Leere. Normalerweise versucht er dann trotzdem aufzustehen; normalerweise bleibt genug von ihm übrig, sagt er, dass er irgendwann beginnen kann, mit großer Vorsicht seine Seele zu durchsieben und freizulegen, weswegen er sich so miserabel fühlt. Wenn Franzen darüber redet, klingt es, als spreche er über eine seiner Romanfiguren, deren Inneres es zu begreifen gilt. Bei seinem Freund Dave, der am Ende auch versucht hat, sich selbst zu therapieren, ging es nicht gut.
Er und David Foster Wallace waren ein merkwürdiges Freundespaar. Franzen sagt, er habe Dave geliebt, doch sie waren auch die härtesten Rivalen. Sie schickten sich gegenseitig jeden Text, sobald er fertig war, um den anderen zu beeindrucken. Wallace hatte ganze Fanscharen und galt als der geniale, schwierige Autor, dessen Texte man sich hart erarbeiten musste und die von Literaturprofessoren an den Universitäten bis auf die letzte Allegorie überprüft wurden. Franzen aber galt als Autor, der Blockbusterliteratur für Vorstadthausfrauen mit Buchclubmitgliedschaft schrieb. Einerseits.
Andererseits fühlte sich Dave, so erzählt es Franzen, auch nicht gerade gut, als er, Franzen, völlig unerwartet mit seiner Familiensaga "Die Korrekturen" ein Superstar wurde.
Das war 2001, und das Buch hat sich nicht nur fast drei Millionen Mal weltweit verkauft, sondern den damals gerade 42-jährigen Schriftsteller in den Rang eines großen amerikanischen Erzählers gehoben, einer, von dem wir uns die Welt erklären lassen wollen; einer, der die gesellschaftliche Totale ins Auge fasst. Der große amerikanische Roman, das war eigentlich die Sache von John Updike, Philip Roth, Richard Ford. Sie haben den Amerikanern ihre Gesellschaftsbilder gemalt, doch es waren die Bilder des 20. Jahrhunderts, die Bilder der prosperierenden Nachkriegsepoche. Franzens "Die Korrekturen" haben diese Ära beendet, sie erschienen in der Woche des 11. September und beleuchteten die letzten Zuckungen jener Epoche, in der das Fundament westlicher Zivilisation, die Familie, zusehends auseinanderfiel und den mehr und mehr individualistischen Solipsismen ihrer Mitglieder geopfert wurde.
Franzen blickt erneut in sein Gesicht auf dem Titelbild. Er sagt, es mache ihn auch traurig. ",Time' war das Einzige, was mein Vater sein ganzes Leben gelesen hat, Woche für Woche, Seite für Seite. Nichts hätte ihn mehr beeindruckt, als mich auf diesem Titelbild zu sehen."
- 1. Teil: Korrekturen der Freiheit
- 2. Teil: Was wäre, wenn man eine Wahl hätte?