Protest Traktate der schlechten Laune
Der Kapitalismus ist ein Monster, das Internet macht dumm, die Leistungsgesellschaft führt in die Depression - viele Sachbücher dieses Herbstes erklären unsere Gesellschaft für krank. Es sind die Wutbücher eines aufgebrachten Bürgertums.
In diesem Herbst tragen die bürgerlichen Schichten Antikapitalismus. Sie tragen Antimodernismus. Sie tragen Technologiefeindlichkeit, die Angst vor dem Individualismus und eine schöne, warme Wut.
Passt ja auch hervorragend zum Nebel der Jahreszeit, zum Abend vor dem Kamin, zum schweren Rotwein.
Da sitzen sie dann und präsentieren sich gegenseitig ihre Wahrheiten wie vorgezogene Weihnachtsgeschenke.
"Der psychische Ausverkauf der Seelenreservate an die Unerbittlichkeit des Marktes ist weiter fortgeschritten, als wir wahrhaben wollen."
Kopfnicken.
"Das Leistungssubjekt befindet sich mit sich selbst im Krieg."
Stärkeres Kopfnicken.
"Ich bin ich, du bist du, und es geht schlecht. Massenpersonalisierung. Individualisierung aller Bedingungen - des Lebens, der Arbeit, des Unglücks. Diffuse Schizophrenie. Schleichende Depression. Atomisierung in feine paranoide Teilchen. Hysterisierung des Kontakts. Je mehr ich Ich sein will, desto mehr habe ich das Gefühl von Leere. Je mehr ich mich ausdrücke, desto mehr versiege ich. Je mehr ich hinter mir herlaufe, desto müder bin ich."
Allgemeines Aufstöhnen.
Das erste Zitat stammt aus "Die Kunst, kein Egoist zu sein", dem neuen Bestseller von Richard David Precht, Philosoph der Bahnhofsbuchhandlungen.
Das zweite Zitat stammt aus "Müdigkeitsgesellschaft", dem bildungsbürgerlichen Kleinbestseller von Byung-Chul Han, Philosoph der schlechten Laune.
Das dritte Zitat stammt aus "Der kommende Aufstand", und man kann praktisch jeden Satz aus diesem Buch nehmen, das ein französisches Kollektiv geschrieben hat, außer vielleicht den mit den Waffen und den mit Anschlägen auf Züge und den mit den brennenden Vorstädten, und jeder unserer braven deutschen Wutbürger würde ihn unterschreiben.
Das Denken ist das gleiche. Der Ekel ist der gleiche. Die Wut ist die gleiche, und die Wahrheiten sind die gleichen, Wahrheiten, die immer sehr nah am antimodernistischen Allgemeinplatz sind.
Ja, das Internet macht uns dumm. Ja, die Leistungsgesellschaft macht uns krank. Ja, der Einzelne ist der Feind, und die Gemeinschaft ist gut. Ja, der Markt ist an allem schuld.
Der Bürger friert in der Welt des Geldes und der Egoisten
So zittert der Bürger, der doch sehr gut mit all dem lebt, das da um ihn herum und in ihm zerbricht. Er friert in dieser kalten Welt, die eine Welt des Geldes und der Egoisten ist. Und flüchtet, wohin sich deutsche Bürger immer flüchten, nach innen, wo es ruhig und heil ist.
Einerseits ist er zwar wütend. Andererseits ist er aber müde geworden, der Bürger. Nicht gut müde, sondern böse müde. Von der "Ich-Müdigkeit als Alleinmüdigkeit" spricht Han, eine "weltlose, weltvernichtende Müdigkeit" sei das, sprachlos, blicklos, entzweiend, so nennt Han das, der aus Südkorea stammt und in Karlsruhe Philosophie unterrichtet. Sein Gegner in dem schmalen Traktat, das einige Aufmerksamkeit in den Feuilletons erzeugte und sich ziemlich gut verkauft: die westliche Leistungsgesellschaft.
"Das spätmoderne animal laborans ist mit dem Ego bis knapp zum Zerreißen ausgestattet", schreibt Han und kommt zu dem romantisch selbstverleugnenden Schluss: "Wenn man seine Individualität aufgäbe und im Gattungsprozess ganz aufginge, hätte man zumindest die Gelassenheit eines Tieres."
Wie jetzt bitte genau?
Das ist das immergleiche Einmaleins des Kulturpessimismus, angereichert mit etwas biologistischem Heilsdenken, wie es unserer Zeit entspricht. Bemerkenswert ist dabei, wie bereitwillig sich in diesem und in anderen Büchern dieses Herbstes Autoren und Leser von den Gegebenheiten der westlichen Lebenswelten verabschieden. Bemerkenswert ist auch, wie gering der Unterschied ist zwischen dem, was Bestsellerautoren schreiben, und dem, was eine radikale Splittergruppe in einem Manifest herausschießt.
- 1. Teil: Traktate der schlechten Laune
- 2. Teil: Wenn die Angst des Einzelnen zur Maxime für alle wird