Im Dschungel verirrt Ohne Proviant und Verstand
Zwei Wochen lang irrte Andrew Gaskell allein durch den Dschungel. Ohne Essen und Orientierung. Bis die Retter den Touristen schließlich entdeckten. Wie hat er überlebt?

Gaskell, Retter
Als der malaysische Suchtrupp durchs Gebüsch bricht, sitzt Andrew Gaskell, auf 40 Kilogramm abgemagert, mit zerschundenen Füßen und Maden unter der Haut, auf einem Stein und ruht sich aus. Er hat gerade Bananen gepflückt, 14 Stück.
Vielleicht ist er zu erschöpft, um in Jubel oder Tränen auszubrechen, vielleicht ist es auch einfach seine höfliche Art, dass er seine Retter mit einem schlichten "Oh, hello" begrüßt.
So erinnert sich Gaskell an den Augenblick, als er jetzt, Wochen später, zu Hause in der Sicherheit der Zivilisation am Telefon seine Geschichte erzählt.
Von einer großen Reise hatte Gaskell, 26, ein ruhiger Typ mit schwarz gerahmter Brille, schon lange geträumt. Er wollte raus aus seiner Heimat, Hobart, der Hauptstadt Tasmaniens, weg von zu Hause, aber nach der Schule hatte er sich nicht getraut. Er fing an zu studieren, Ingenieurwesen, brav, wie sein Vater. Er fand einen Job bei einer kleinen Firma in Cairns im Nordosten Australiens. Aber glücklich wurde er dort nie.
Als Gaskell im Juni 2016 seinen Job verliert, bucht er einen Flug nach Kuching in Malaysia. Auf seinem Blog kündigt er an, er werde auf Reisen gehen, um sich selbst zu finden.
Im Oktober macht er sich auf den Weg in den Dschungel des Gunung-Mulu-Nationalparks im Norden Borneos. Er überfliegt Broschüren des Parks und weiß sofort, was er tun will: Die größte Herausforderung, heißt es dort, sei die Besteigung des Gunung Mulu, 2377 Meter über dem Meeresspiegel, 24 Kilometer Wegstrecke.
Kein Tourist solle allein in den Dschungel gehen, steht in der Broschüre, die Gefahr, sich zu verirren, sei groß. Gaskell macht sich trotzdem ohne Begleitung auf den Weg. Zu Hause in Australien ist er mit seinem Vater viel gewandert, auch bei Regen, Nebel und Eis. "Das müsste gehen", denkt Gaskell. Er will in einem einzigen Tag hin und zurück.
Erster Tag. Gaskell läuft auf einem Holzsteg, der für Touristen angelegt wurde, über Brücken und unter Wasserfällen hindurch. Dann beginnt der Anstieg über verschlungene Pfade. Es regnet stark. Er übernachtet in einer Holzhütte am Wegrand. Bevor er sich auf den kahlen Fußboden legt, isst er eine Packung Cracker.
Zweiter Tag, Gaskell steht auf dem Gipfel und macht Fotos. Alles am Dschungel findet er "übertrieben", sagt er, übertriebenes Grün, übertriebene Pflanzen, ein übertriebener Geruch. Er ist glücklich in diesem Moment.
Dann macht er sich auf den Rückweg. Es ist heiß geworden, Gaskell freut sich schon auf das Abendessen im Dorf. Wieder wandert er auf den verschlungenen Pfaden. Doch diesmal ist etwas anders: Über den Weg wuchern Pflanzen und Wurzeln, plötzlich kann Gaskell den Unterschied zwischen Pfad und Urwaldboden nicht mehr ausmachen. Er sieht nur undurchsichtiges Grün.
Als es dunkel wird, sucht er sich einen Felsvorsprung und kriecht darunter. Von da an verlaufen Gaskells Tage im Dschungel immer gleich: Er steht auf, wenn es hell wird, irrt umher bis zum Nachmittag, und wenn es anfängt zu regnen, sucht er Schutz unter einem Felsvorsprung.
Dritter, fünfter, siebter Tag. Er schläft kaum, die Insektenbisse jucken, und das Wasser des Flusses rauscht in seinen Ohren. Er ernährt sich von Beeren, irgendwann isst er Farne, sie schmecken nach Sellerie. "Australischer Tourist seit einer Woche vermisst", schreibt die "New Straits Times".
Er irrt immer weiter herum, ob er tiefer in den Dschungel hineingerät oder schon am Rand ist - er weiß es nicht. Es regnet jeden Tag. Er versucht sich am Fluss zu orientieren, weil das Dorf flussabwärts lag. Es gibt viele Flüsse im Dschungel von Mulu.
Irgendwann läuft er auf blutigen, aufgeschürften Fußsohlen, mit jedem Schritt wetzt seine Haut an seinen feuchten Schuhen. Die Fliegen, die sich nachts, wenn er die Socken auszieht, auf seine Füße setzen, bringen Maden mit. Sie nisten sich in seinem Fleisch ein.
Zehnter Tag, "Familie des vermissten Andrew Gaskell reist nach Malaysia", steht auf Dailymail.co.uk.
Die Strecken, die Gaskell schafft, werden immer kürzer, die Kraft verlässt seinen Körper. Er denkt an Orte, die er noch besuchen wollte, an Beziehungen, die er führen wollte, an den Sex, den er gern noch gehabt hätte. Und er denkt an Essen. Er denkt an seine Freunde, seine Familie, an seinen kleinen Bruder Ben. Er denkt daran, dass er sterben könnte, bald. Wie egoistisch das von ihm wäre.
Am dreizehnten Tag klettert er mit letzter Kraft auf eine hohe Bananenstaude, stopft sich die Taschen mit Früchten voll. Als er wieder am Boden ist, setzt er sich müde auf jenen Stein. Er hört ein Krachen in den Ästen. Die Männer des Suchtrupps stehen vor ihm. "Oh, hello."
Erst jetzt spürt Gaskell die Schmerzen in den Füßen. Er spürt das Ausmaß seines Hungers, er spürt seinen abgemagerten Körper. Er lässt sich von den Männern auf eine Trage heben und in den Helikopter tragen. "Vermisster Tasmanier nach Wochen lebend wiedergefunden", steht bei Abc.net.au.
Von den Männern des Suchtrupps erfährt er, dass die Geschichte vom verirrten australischen Backpacker auf der ganzen Welt Schlagzeilen gemacht hat. Im Krankenhaus träufeln Pfleger Terpentin in seine Wunden und ziehen die Maden aus seinen Füßen. Er ist erschöpft, aber er schläft nicht.
Als sein Vater zu ihm ans Bett kommt, sagt der Sohn nur einen Satz: "I'm sorry."
Sein Reiseblog hat er seit seiner Rückkehr so nicht weitergeführt, weil das jüngste Kapitel zu groß ist dafür. Andrew Gaskell schreibt jetzt ein Buch.