Essay Keine Angst!
Warum die anderen Parteien von den Piraten lernen müssen.
Sie müssen früher auf den politischen Prüfstand, als sie es selbst vermutet hatten: Es scheint nicht unrealistisch, dass in wenigen Wochen in vier deutschen Landesparlamenten Piraten-Abgeordnete Platz nehmen werden. In den Sonntagsfragen deklassieren die Neulinge die FDP bei weitem und landen bei Werten, die man von Linkspartei oder Grünen gewöhnt ist. Die Vergleiche mit dem Entstehen der grünen Bewegung und deren Einzug in die Volksvertretungen hinken nicht nur bei der Zeitspanne, die eine Idee wachsen muss, ehe sich ihr vielleicht immer mehr Menschen anschließen, sondern vor allem beim gedanklichen Unterbau. Welcher Art ist das prinzipielle Umdenken, das Piraten eint und ihnen die Kraft geben könnte, immer mehr Mitstreiter zu finden?
Die Piraten sind in ihrem Kern technologiebejahend, besonders bei der innerparteilichen Meinungsfindung. Eine Vielzahl von Mailing-Listen, Wikis, Chat-, Internettelefonie- und Social-Media-Kanälen wird für Austausch, Debatte und Streit genutzt. Die womöglich für die Entwicklung der politischen Kultur folgenreichste Technik ist aber ein auf den ersten Blick wenig einladendes System namens "Liquid Feedback".
Die Idee dahinter beruht auf der Erkenntnis, dass die alten Methoden innerparteilicher Meinungsbildung kein Gefühl von Teilhabe und Gestaltbarkeit mehr erzeugen. Das System aus Regionalgliederungen, Delegiertenkonferenzen, Kungelrunden, Netzwerken und Kommissionen verhindert, dass innovative Ansätze diskutiert werden oder sich gar durchsetzen.
Die Auswüchse der parlamentarischen Demokratie, die Politiker und Wähler einander entfremden, sind offenkundig: Statt über Inhalte wird über Parteitaktik und Personen gestritten. Die Sprache gleicht zuweilen der in schlecht synchronisierten Filmen. Gute Ideen werden zu oft abgeschossen und begraben, manchmal gar nicht erst diskutiert, weil sie vom falschen Landesverband oder der falschen Person geäußert wurden oder innerparteilichen Interessen entgegenstehen.
Proporzarchitekturen, die Machtgefüge abbilden, prägen den politischen Alltag. Entsprechend intellektuell und handwerklich dürftig ist die aktuelle Realpolitik. Spitzenkräfte haben schon lange keine Zeit mehr zum Durchdringen eines Themas. Regierende werden nicht nur durch Gefälligkeiten der Lobbyisten eingefangen und beeinflusst. Oft genug ist es schlicht deren inhaltliche Zuarbeit, die kostenlos und zur rechten Zeit offeriert wird, die den Ausschlag für Gesetzesinitiativen gibt.
Die Piraten sind angetreten, vieles davon zu ändern. Dass ihnen aus den etablierten Parteien eine Kombination aus Spott, Ignoranz und neuerdings auch Angst entgegenschlägt, ist nicht verwunderlich. Besonders beängstigend aus Sicht der in Parlamenten vertretenen Parteien muss es sein, dass die Piraten mit ihrem politischen Selbstverständnis, das so ganz anders wirkt als das der bräsig und behäbig wirkenden Konkurrenten, Menschen in Scharen mobilisieren. Unter ihnen sind nicht nur besonders viele Erstwähler, sondern auch Menschen, die vom politischen System längst aufgegeben worden waren.
Obendrein fällt das Einsortieren des Phänomens in das beliebte Rechts-links-Schema schwer. Der gescheiterte Ex-Generalsekretär der Liberalen, Christian Lindner, versuchte es trotzdem, als er die Piraten kürzlich die "Linkspartei mit Internetanschluss" nannte. Schon ein flüchtiger Blick in die Programme beider Parteien hätte ihm allerdings zeigen können, dass die inhaltliche Distanz in etwa so groß ist wie die der heutigen FDP zu ihrem einstigen Wahlziel 18 Prozent.
Was aber ist dieses Neue, so Reizvolle an den Piraten? Im Kern ist es das Versprechen einer niedrigschwelligen Möglichkeit zur Mitgestaltung und politischer Teilhabe, auch für Menschen, die nicht die Politik zu ihrem Lebensinhalt machen wollen und die nichts zu tun haben mit der Kaste der Berufspolitiker. Liquid Feedback und verwandte Werkzeuge sind das mächtigste Mittel der Piraten für diese neue Art des Politikprozesses. Der Gedanke: Jeder Pirat kann zu jedem Thema seine Meinung einbringen, beim Priorisieren der Inhalte mit entscheiden und darüber abstimmen.