Jugendliche kehren dem sozialen Netz den Rücken - zu viele Eltern und Lehrer tummeln sich dort. Sie bevorzugen nun flüch-tige Chat-Dienste wie WhatsApp.
Noch vor kurzem konnten sich Kulturpessimisten wunderbar aufregen: über exhibitionistische Lolitas oder über Facebook-Partys, bei denen Hunderte Fremde das elterliche Domizil leichtsinniger Teenager verwüsteten. Das könnte bald Geschichte sein.
Messaging-Dienste wie WhatsApp, die auf Smartphones laufen, machen nicht nur der klassischen, überteuerten SMS Konkurrenz. Die Jugend flieht auch aus Facebook. Der Exodus könnte sich beschleunigen, denn am Dienstag kündigte der Dienst an, Werbevideos zwischen die persönlichen Mitteilungen zu mischen. Der Aktienkurs erreichte daraufhin Rekordhöhen. Doch einige Nutzer sind genervt von der Aufdringlichkeit.
"Ich poste höchstens einmal pro Woche auf Facebook, aber das ist dann eben öffentlich und auch noch in einem Jahr da", sagt zum Beispiel Regina, 15, aus Hamburg. "Wenn ich mich mit Freunden verabrede, mache ich das mit WhatsApp."
Vor Partys loggen sich oft mehr als 30 ihrer Freunde in den Chat für die ganze Klasse ein und tippen übers Smartphone wild durcheinander. Rechtschreibung, "Likes" und "Shares" müssen draußen bleiben, Eltern und Lehrer auch. E-Mail erscheint Teenies antiquiert wie ein Telegramm aus Opas Zeiten, tauglich allenfalls noch für Praktikumsbewerbungen.
"Jugendliche wollen sich aus der engen Familienbindung lösen und suchen Rückzugsräume", sagt Niels Brüggen vom Institut für Medienpädagogik JFF in München. "Facebook erschwert das durch ständige Änderungen der Privatsphäre-Einstellungen - diese erzwungene Offenheit empfinden Teenager als Zermürbungstaktik."
Chats dagegen sollen einfach, schnell, flüchtig sein. Flüchtig, denn das Gedächtnis des Internets ist unermesslich, die Speicherwut beinahe unbegrenzt, und so werben Dienste wie Snapchat mit dem Vergessen: Fotos und Videos werden ein paar Sekunden nach dem Aufrufen durch den Empfänger gelöscht.
Einerseits ist das ein hohles Versprechen, denn natürlich lassen sich Bilder vom Bildschirm abfilmen - oder fotografieren. Und längst gibt es Apps wie Snapcapture, die Videos abfangen und speichern. Dennoch scheint Snapchat einen Nerv zu treffen: Während die Facebook-Timeline so gewichtig wie ein ledergebundenes Familienalbum daherkommt, locken Chat-Dienste mit der Leichtigkeit eines flüchtigen Flirts.
Facebook reagiert auf seine schwindende Bedeutung für Jugendliche mit immer neuen Firmenkäufen. Angeblich wollte der Gigant auch Snapchat ergattern, für drei Milliarden Dollar, berichtet das "Wall Street Journal". Snapchat hat abgelehnt. Wie der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg es einst selbst tat: 2006 wies er eine Milliarde Dollar vom strauchelnden Riesen Yahoo zurück.
Die Konkurrenz der Messaging-Dienste weltweit ist gewaltig (siehe Grafik). In China dominiert der Alleskönnerservice Wechat, mit dem man sogar an Automaten Snacks kaufen und Freunde orten kann. In Südkorea führt Kakaochat, in Japan Line. Weltweit liegt WhatsApp derzeit vorn mit über 350 Millionen aktiven Nutzern - mehr als Twitter. Weitere Mitbewerber: Hike, Kik, Tango, Cubie.
Ähnlich unübersichtlich war das Spektrum der sozialen Netze noch vor rund fünf Jahren mit Myspace, Friendster, Orkut, StudiVZ und eben Facebook. Dann kam eine brutale Marktbereinigung. Auch Zuckerbergs Weltfirma könnte in naher Zukunft den Weg (fast) alles Digitalen gehen - wie zuvor schon Second Life, AOL, Netscape.
Doch WhatsApp gerät immer wieder in die Kritik. Nach wie vor versucht die Firma, bei der Installation Adressbuchdaten der Neukunden auszulesen, wie es auch die Konkurrenz gern tut.
Mit dem Abschöpfen des Adressbuchs verhält es sich wie mit einer ansteckenden Krankheit, denn es betrifft auch Leute, die selbst gar kein Smartphone besitzen. Wer seine Telefonnummer einem einzigen leichtsinnigen Chat-Nutzer verrät, kann davon ausgehen, dass sie bald auf einem ausländischen Server landet.
Für WhatsApp spricht dabei, dass es im Gegensatz zu SMS und E-Mail die Botschaften standardmäßig verschlüsselt. Wie sicher diese Verschlüsselung ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Sicherheitsforscher wie Bertram Poettering vom Royal Holloway College der University of London und der niederländische Student Thijs Alkemade kritisieren Schwachstellen. Angeblich ließen sich in der Vergangenheit über drahtlose Netze Chat-Gespräche abfischen. WhatsApp tat derlei als "theoretisch" und "übertrieben" ab, verbesserte aber die Software.
Bemerkenswert ist dabei, dass Verschlüsselung überhaupt ein Thema ist. Jugendliche gehen heute "mit Informationen über die eigene Person sehr viel sparsamer um" als noch vor einem Jahr, stellt der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest fest. Dieser Wunsch nach Vertraulichkeit treibt eine neue Generation von Chat-Diensten an: Hoccer und Whistle aus Deutschland zum Beispiel oder Heml.is aus Schweden.
Die Schweizer App Threema verschlüsselt Chats auf dem ganzen Weg von Nutzer zu Nutzer: Nicht einmal die Firma selbst kann - angeblich - ohne weiteres mitlesen, was über ihre Server geplaudert wird. Im Sommer zählte Threema zu den beliebtesten Apps in Deutschland.
"In Zukunft werden alle Messaging-Dienste auf Flüchtigkeit setzen", sagt Nico Sell, Mitorganisatorin der Hackerkonferenz Defcon und Mitgründerin des jungen Chat-Dienstes Wickr, der Botschaften verschlüsselt und automatisch nach dem Lesen löscht. "Es ist so einfach, sich öffentlich darzustellen. Daher wird es jetzt wieder cool, die Privatsphäre zu schützen."