Raser auf YouTube Jagd nach dem Kick
Zehntausende Fans verfolgten auf YouTube die Videos des Bremer Motorradfahrers "Alpi". Wer ist der Mann hinter den Speed-Exzessen - und wer berauscht sich im Internet an solchen Bildern?
Auf den ersten Blick war es ein tragischer Unfall, an dem das Opfer nicht ganz schuldlos schien: Am 17. Juni überquert in Bremen ein 75-jähriger Mann an einer Baustelle die Straße. Es ist 21.38 Uhr. Der Mann ist betrunken. Die Fußgängerampel zeigt Rot. Als er trotzdem die Straße betritt, erfasst ihn frontal ein Motorrad. Laut Gutachten beträgt die Geschwindigkeit der Kawasaki beim Aufprall 63 bis 68 Stundenkilometer. Das Opfer wird einige Meter durch die Luft geschleudert, stirbt noch am Unfallort.
Oder ist es ein Tatort?
Die Bremer Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen den Motorradfahrer erhoben - wegen Mordverdachts. An diesem Montag beginnt nun der Prozess.
In dem Fall geht es um die Frage, ab wann ein Unfall kein Unfall mehr ist. War es Fahrlässigkeit, oder nahm der heute 24-jährige Biker billigend in Kauf, einen Menschen zu Tode zu fahren? Und es geht um die Rolle des Internets. Denn der in Bremen geborene Deutschtürke Alperen T. ist in der Bikerszene ein Star im Netz, ein Videoblogger. Mit einer Helmkamera filmte er, wie er durch die Stadt raste, sich Rennen mit schnellen Autos lieferte.
Zeitweise lud er mehrere Filme pro Woche hoch. Zehntausende Fans verfolgten seine halsbrecherischen Fahrten auf dem YouTube-Kanal "Alpi fährt" und verschafften ihm so Einnahmen. Google, der Mutterkonzern von YouTube, schaltete Werbung und überwies "Alpi" für Januar bis Juni 2016 rund 2200 Euro. Raste Alperen T. deshalb wie ein Wahnsinniger durch die Stadt?
Nun muss das Bremer Landgericht entscheiden, ob es die Mordanklage gegen den Motorradfahrer zulässt. Es sind vor allem die YouTube-Filme, die T. belasten. Im Sommer, als der Fußgänger auf dem Asphalt stirbt, haben mehr als 80.000 Fans die Filme auf "Alpis" Kanal abonniert. Unter dem Hashtag #Freealpi fordern Anhänger nun seine Freilassung.
Der psychiatrische Gutachter Konstantin Karyofilis ist beauftragt, T.s Schuldfähigkeit zu beurteilen - eines Einwandererkindes, dessen Eltern zu Hause Türkisch reden, Deutsch lernt es im Kindergarten. T. fällt das Lernen leicht. Er macht Abitur und fängt an, Maschinenbau und Produktionstechnik zu studieren. Da beginnen die Probleme.
Schon im zweiten Semester verliert T. das Interesse. Der Gutachter wertet das als Beleg für seine mangelnde Reife und einen von wenig Ehrgeiz geprägten Charakter. T. schmeißt das Studium. In Oldenburg beginnt er kurz darauf ein Lehramtsstudium, scheitert aber zweimal im Test für das Fach Sport. Er läuft zu langsam. Seine Freundin trennt sich von ihm.
Alperen T. tröstet sich mit seinem Motorrad. Im Juni 2015 eröffnet er den YouTube-Kanal "Alpi fährt". Zunächst aus Neugierde, wie er sagt. Doch dann kommen die Klicks. Schon nach wenigen Monaten hat er 3000 Abonnenten.
Alpi nimmt sie mit auf seine irren Touren, lässt sie teilhaben, als er ein stärkeres Motorrad sucht, stellt die Probefahrten ins Internet. Schließlich kauft er die Todesmaschine mit 200 PS, eine Kawasaki Ninja ZX-10R. Um sein Hobby zu finanzieren, jobbt er an den Wochenenden am Bremer Flughafen bei einem Autovermieter und bei Mercedes am Fließband.
Ansonsten fährt er Motorrad. "Da sind wir wieder. Auf der Suche nach Frischfleisch", spricht er in sein Helmmikrofon. Nachts jagt er an der Bremer Discomeile vorbei, beschleunigt in der Stadt auf 177 Stundenkilometer, wo nur 60 erlaubt sind.
Die Videoaufnahmen von diesen riskanten Fahrten stellte die Polizei sicher. Sie zeigen einen lachenden Raser, der gern dicke Autos jagt und sich abfällig über jeden äußert, der ihm in die Quere kommt. Als sich immer mehr Leute für seinen YouTube-Kanal interessierten, habe er versucht, die Videos mit besonderen Schnitten noch attraktiver zu machen, erzählte T. dem Psychiater Karyofilis. Ein Großteil der Filme zeige harmlose Motorradtouren, sagt sein Anwalt Armin von Döllen.
Täglich kommen 2000 bis 3000 neue Fans dazu. Finanziell habe sich das enorm ausgewirkt, so Alperen T., allein in den letzten 20 Tagen, bevor die Videos gesperrt wurden, habe er 900 Euro verdient. Er habe schon daran gedacht, mit den Filmen gewerbsmäßig Geld zu verdienen.
Die Einnahmen, die T. im Internet erwirtschaftete, wertet die Staatsanwaltschaft als mitbestimmendes Motiv für seine riskante Fahrweise. Für Habgier als Mordmotiv gebe es allerdings derzeit keinen hinreichenden Tatverdacht.
Eines Nachts filmt "Alpi" einen Fußgänger auf dem rechten Fahrstreifen, an dem er mit 107 km/h vorbeirast. Was er in dem Film "Mitternachtsrunde" nach diesem Beinaheunfall in das Mikro spricht, belastet ihn nach Auffassung der Ankläger schwer: "Ist der behindert? Was war das? Behinderter Hurensohn! Er bleibt stehen, wie ein Reh! Er wäre gestorben. Ich hätte ihn in seine Einzelteile zerlegt, wie mein Lego. Voll der behinderte Wichser!"
Die Ermittler sehen diese Sätze als Beleg dafür, dass sich Alperen T. durchaus darüber im Klaren gewesen ist, wie gefährlich seine Rasertouren durch die Stadt waren. Die Logik der Anklage: Einer, der es ständig darauf ankommen lässt, dass etwas passieren kann, handelt nicht mehr fahrlässig, sondern mit Vorsatz.
Wer sich dauerhaft derart massiv über die Straßenverkehrsordnung hinwegsetze, heißt es in der Anklageschrift, der nehme schwere Verletzungen und den Tod anderer Verkehrsteilnehmer billigend in Kauf. Das ist eine Begründung für den "bedingten Tötungsvorsatz", die Mordanklage. Spätestens seit der nächtlichen Beinahekollision habe Alperen T. vom Tötungspotenzial seines Motorrads gewusst, so die Ermittler.
"Ich glaube, der wollte sterben", lästert "Alpi" in einer anderen Aufnahme über einen Radfahrer, der seine Fahrbahn kreuzen will. Denkt er wirklich so? Oder will er damit sein Internetpublikum anfeuern?
"Es mag sein, dass Alperen T. eine bewusste Fahrlässigkeit beging, keinesfalls jedoch einen Mord", sagt sein Anwalt. T. habe darauf vertraut, die Lage im Griff zu haben. Es werde schon nichts passieren. Keineswegs habe er einen Menschen töten wollen oder billigend in Kauf genommen, dass ein Mensch stirbt. "Darum war es ein Unfall und kein Mord."
Das ist die entscheidende Frage. Die Staatsanwaltschaft unterstellt dem Beschuldigten "niedere Beweggründe". Ein Anreiz für die Raserei sei der besondere "Kick" gewesen, den Alperen T. durch die hohe Geschwindigkeit empfunden habe, und die Herausforderung, die Situation trotz des Risikos zu kontrollieren.
In der Todesnacht am 17. Juni soll Alperen T. laut Anklage schon vor dem fatalen Crash Straftaten begangen haben, indem er grob verkehrswidrig und rücksichtslos fuhr, Leib und Leben eines anderen Menschen gefährdete.
Gegen 21.30 Uhr sei es an einer Ampel zu einer Beinahekollision mit einem anderen Motorrad gekommen, das er überholt.
Gegen 21.37 Uhr habe "Alpi" einen Mercedes C 220 mit Oldenburger Kennzeichen überholt. Diesmal geht es wohl nicht so glimpflich aus: Beim Einscheren touchiert die Kawasaki das Auto, der Blinker vorn links zerspringt. Statt anzuhalten, gibt T. laut Zeugenaussagen erneut Gas und rast weiter, Fahrerflucht.
Schließlich, nur wenige Hundert Meter weiter, trifft er an der Baustelle auf den 75-Jährigen. Als die Ampel laut Zeugen auf Gelb umspringt, gibt er weiter Gas. Doch dann steht plötzlich der alte Mann auf der Straße. Alperen T. geht in die Bremsen. Aber er ist zu schnell, er kann seinem Opfer nicht mehr ausweichen.
Bei dem Zusammenstoß wurde Alperen T. selbst schwer verletzt. Einen Arm kann er seitdem nicht mehr bewegen, eine Transplantation von Nervengewebe soll helfen. Auch ein Bein wurde verletzt.
Ob er jemals wieder Motorrad fahren wird, ist ungewiss. Auf Instagram postete er ein Foto aus dem Krankenhaus von dem verbundenen Bein.
Fans und Kritiker debattierten nach seinem Post, ob es in Ordnung sei, dem Motorradraser gute Besserung zu wünschen. "Ich stehe hinter Alpi und bin dafür, dass er nicht ins Gefängnis kommt", schreibt einer. Das könne jedem passieren, kommentiert ein anderer. "Jetzt bekommt er 20 Jahre und ich kann meinen ALLER BESTEN LIEBLINGS YOUTUBER NICHT SCHAUEN", heißt es an anderer Stelle.
Über den toten Fußgänger ist im Internet hingegen wenig zu lesen.