Venedig Die ganze Stadt ein Grab
3. Teil: Häuser, in denen Pestkranke lebten, wurden mit einem Kreuz markiert
1485 richtete die Stadtregierung nach einem neuerlichen Pestausbruch zudem eine Gesundheitsbehörde ein, den Magistrato della Sanità. Die Hauptaufgabe dieses drei- bis fünfköpfigen Kollegiums mit weitreichenden Befugnissen war es, die Stadt vor Seuchen zu schützen.
Dafür setzten sie alles daran, Kranke aufzuspüren, führten akribisch Listen über alles Verdächtige: Notiert wurde der Name jedes Bürgers, der an der Pest verstarb, jeder, der vom Lazzaretto Nuovo ins Lazzaretto Vecchio verlegt wurde, jeder, der die Stadt verließ. Sorgfältig vermerkten die Beamten bei allen Verstorbenen die Körperstellen, an denen die Symptome der Seuche aufgetreten waren.
Tote Väter und Mütter wurden von ihren Kindern vor die Haustür getragen - ihre Körper öffentlich entblößt, damit untersucht werden konnte, ob sie an der Pest gestorben waren, schrieb der venezianische Chronist Rocco Benedetti 1577. Eine neue heftige Pestwelle seit dem Sommer 1575 hatte dafür gesorgt, dass Ehre, Schamgefühl und Pietät nichts mehr zählten angesichts des verzweifelten Versuchs, das Gemeinwesen gegen die Pest zu verteidigen.
Diesmal war die Seuche nicht vom Meer gekommen, sondern vom Festland: Vermut lich ein Mann aus Trient mit Namen Matthias Tridentinus habe die Seuche nach Venedig eingeschleppt, berichten die Chronisten.
Zwar war das Gemeinwesen dank des Magistrato della Sanità nun deutlich besser gerüstet als noch 200 Jahre zuvor, es gab Lazarette und Gesundheitsgesetze. Man belohnte Nachbarn, die ihre infizierten Mitbewohner denunzierten, und untersagte öffentliche Menschenansammlungen.
Doch all das nützte nichts: Vor allem in den Vierteln der Armen, der Poveri, wo viele Menschen unter schlechten hygienischen Bedingungen auf engem Raum zusammenlebten, griff die Seuche rasch um sich. Die Behörde drohte mit drakonischen Strafen: Häuser, in denen Betroffene wohnten, wurden mit einem kreuzförmigen Schild markiert, wer ein solches Haus verließ, konnte ebenso verurteilt werden wie jemand, der Hab und Gut daraus verbreitete.
Auf der Quarantäne-Insel wurde es eng
Kurzzeitig überlegte die Stadtregierung sogar, alle Armen aus der Stadt zu schaffen, um die Ansteckungsgefahr zu verringern - entschied sich aber doch dagegen. Nach und nach drang die Seuche auch in die wohlhabenderen Stadtteile vor.
Eines ihrer berühmten Opfer war der Maler Tizian, der im August 1576 kurz vor seinem Sohn der Pest erlag. Dank eines gefälschten Totenscheins erhielt der gefeierte Künstler ein eigentlich verbotenes kirchliches Begräbnis; seine Villa aber wurde von Dieben geplündert.
Schon bald reichten die Lazarette nicht mehr für all die Kranken und Verdächtigen, die es aus der Stadt zu schaffen galt, so dienten Klöster als Krankenstationen oder Entsendungsstellen.
Und als es auf der Quarantäne-Insel Lazzaretto Nuovo eng wurde, quartierte man die Ansteckungsverdächtigen zunächst in Holzbaracken auf Strohsäcken ein, später in einer schwimmenden Stadt aus Flößen und Galeeren um die Insel.
Unablässig pendelten die mit weißen Tüchern bedeckten "barche negre" auf den Kanälen, die schwarzen Barken, die Leichen auf die Inseln verschifften. Doch auch an den "picegamorti" fehlte es, den Männern, die mit Glöckchen an den Armen die Toten auf die Inseln übersetzten. Die Barken konnten die Flut an Leichen nicht mehr bewältigen: Am 26. Juni 1576 wurden 60 neue Boote bestellt, zwei Wochen später noch einmal weitere 1000.
Der letzte Beutezug der Pest in Venedig
Etwa ein Drittel der 160.000 Einwohner Venedigs starb, bevor der Rat am 13. Juli 1577 die Befreiung von der Pest verkündete. Aus Dankbarkeit und Erleichterung bauten die Bürger eine Kirche, "Il Redentore".
Vielleicht lag es an ihr, vermutlich aber war es einfach Glück, dass Venedig bis 1630 von erneuten Pestausbrüchen verschont blieb. Dann suchte die dritte heftige Welle die Stadt heim, wieder starb rund ein Drittel der Einwohner, unter ihnen der Patriarch von Venedig, Giovanni Tiepolo, wieder gelobten die Bürger den Bau einer Kirche: Mit Santa Maria della Salute sollte das Übel aus der Stadt weichen.
Es blieb der letzte Beutezug der Pest in Venedig. Bis heute ist unklar, warum die weiteren Epidemien, die Europa bis 1720 plagten, die Lagunenstadt verschonten.
Welche Furcht die Seuche fast 300 Jahre lang in der Stadt verbreitet hatte, ahnten die Archäologen, die 2006 am ehemaligen Lazzaretto Nuovo die Leiche einer etwa 60-jährigen Frau ausgruben. Sie war 1576 an der Pest gestorben. und in ihrem Mund fand sich ein großer Stein, der einige Jahre nach ihrem Tod dort hineingesteckt worden war.
Die Forscher vermuten, dass das Massengrab bei einer späteren Epidemie wieder geöffnet wurde und die Totengräber die von Fäulnisgasen aufgeblähten Leichen, denen verwesendes Blut aus dem Mund tropfte, für Vampire hielten. Damit die scheinbar Untoten verhungerten, rammten sie ihnen mit wütender Verzweiflung einen Backstein zwischen die Zähne. Das Unglück sollte es bloß nicht wagen, noch einmal die Stadt heimzusuchen.
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- 1. Teil: Die ganze Stadt ein Grab
- 2. Teil: Beerdigungen bestimmten den Alltag, das normale Leben war fast völlig erloschen
- 3. Teil: Häuser, in denen Pestkranke lebten, wurden mit einem Kreuz markiert