Blinde Fans bei Fußball-WM Endlich den Torjubel nicht mehr unterdrücken
Gemeinsam Fußballspiele zu verfolgen, verbindet Fans - auch jene mit Sehbehinderungen. Um genau dieses Gefühl weiter zu fördern, setzen die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender zur Weltmeisterschaft 2014 auf ein neues Projekt.
Er sitzt zusammen mit seinen Freunden auf dem Sofa, es läuft Fußball, er feuert seine Mannschaft an. Plötzlich reißt er die Arme in die Luft und jubelt. Die anderen drehen sich verwundert um. Wenig später jubeln auch sie. Christian Seuß ist blind und hört die Fußballspiele live im Radio. Seine sehenden Freunde verfolgen die Spiele auf dem Fernseher. Zwischen TV-Bild und Radiosignal gibt es eine Verzögerung von bis zu zehn Sekunden. Das macht ein gemeinsames Fußballerlebnis unmöglich.
Diese Erfahrung hat auch Andreas Bethke gemacht. "Als Fan einfach alles miterleben, ohne sich ausgeschlossen zu fühlen - das wäre toll", so Bethke, der gerne ins Stadion geht und sich dort die Reportagen für Sehbehinderte anhört. "Aber bei Spielen, die im Fernsehen übertragen werden, klappt das bislang nicht so gut. Denn die Diskrepanz zwischen der Radiofrequenz und dem TV-Bild ist oft so groß, dass ich schon vor den anderen weiß, was passiert."
Bethke ist Geschäftsführer des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes. Sport leistet einen wichtigen integrativen Beitrag. Sehbehinderte und Sehende können gemeinsam Fußball erleben. Für 90 Minuten sind alle gleich. Einziger Unterschied: Für sehbehinderte Menschen ist das Sporterlebnis nur sehr schwer zu verfolgen. Denn das Spielgeschehen vor sich können sie meist gar nicht oder nur zu Teilen erkennen. Sie sind auf das gesprochene Wort angewiesen.
In der Bundesliga schon gang und gäbe
Viele Bundesliga-Vereine haben erkannt, dass sie ihren sehbehinderten Fans einen besonderen Service bieten müssen. Seit über zehn Jahren gibt es Live-Reportagen für Sehbehinderte. Im Stadion sitzen sie nebeneinander auf ganz normalen Plätzen, welche dennoch eine kleine Besonderheit haben. Die Besucher haben ihren eigenen Reporter. "Über Kopfhörer wird uns das Spielgeschehen beschrieben", erklärt Bethke.
Die Journalisten reportieren das gesamte Spiel für die sehbehinderten Menschen, erläutern jeden Schuss, jeden Laufweg und alle anderen Aktionen. Besonders wichtig ist es hierbei, dass es ständige Verortungen gibt - "ein einfaches 'läuft an der Außenlinie entlang' reicht nicht", erklärt Broder-Jürgen Trede, Leiter der bundesweiten Seminare für Blinden-Reporter der DFL. "Damit die Zuhörer dem Spielgeschehen folgen können, müssen die Reporter permanent alle Geschehnisse aus dem Stadion einfangen, sei es Fangesang oder die Choreografie des Fanblocks."
In der Regel wird diese Arbeit von ehrenamtlichen Journalisten übernommen. In 17 von 18 Erstliga- und 14 Zweitliga-Stadien gibt es diesen Service. Einzige Ausnahme ist der SC Freiburg. "Die haben den Mehraufwand für die kleine Anzahl an blinden Fans noch nicht eingesehen", so Trede. Selbst Drittliga-Klubs wie beispielsweise RB Leipzig und der VfL Osnabrück setzten Reporter für die Sehbehinderten ein.
Was in Bundesliga-Stadien seit Langem zum Alltag gehört, findet im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erst jetzt Aufmerksamkeit. Mit dem Start der Weltmeisterschaft in Brasilien wollen ARD und ZDF ihr TV-Programm auch den sehbehinderten Menschen zugänglich machen. Zu allen Spielen der deutschen Nationalmannschaft und den entscheidenden Partien wie Halbfinale und Finale soll es eine Hörfunk-Reportage geben. Unter Leitung des Südwestrundfunks wird parallel zu der Fernsehübertragung eine Tonspur für Sehbehinderte laufen. Das Projekt soll den Zuschauern ermöglichen, gemeinsam Fußball zu schauen - egal ob mit Sehbehinderung oder ohne.
Anstoß zu dem Projekt kam vom Blindenverband
Die Partnerschaft, die durch die ARD und das ZDF ins Leben gerufen wurde, sei ein sinnvolles Angebot für sehbehinderte Menschen - so Thomas Bellut, Intendant des ZDF. Einen ersten Test gab es zum Eröffnungsspiel der Bundesliga-Saison 2013/2014 in der Partie zwischen Bayern und Borussia Mönchengladbach. Für den Experten offenbarten sich hier noch große Probleme. "Die Reporter waren überfordert, wussten nicht, was sie sagen sollen und was nicht. Das ist nicht das, was die Sehbehinderten erwarten", so Trede. Dennoch lobt er die Initiative der öffentlich-rechtlichen Sender, denn alles, was für die Integration der sehbehinderten Menschen getan wird, sei ein Schritt in die richtige Richtung.
Anstoß zu dem Projekt von ARD und ZDF gab der Bayerische Blindenverband. "Es hat keinen Spaß gemacht, als blinder Mensch mit Sehenden zusammen Fußball zu erleben", sagt Seuß. Aus dieser Motivation heraus entwickelte der Landesgeschäftsführer des Bayerischen Blindenverbandes ein Konzept. Er hatte keine Lust mehr, seinen Torjubel unterdrücken zu müssen, nur weil seine Radiofrequenz dem TV-Bild um ein paar Sekunden voraus war. In Gesprächen mit dem Bayerischen Rundfunk wurde der Anstoß für das Projekt gegeben und bereits ein Jahr später gab es die ersten Versuche. Bei den Fußballfans scheint es gut angekommen zu sein. "Das Angebot finde ich wirklich super, das Problem mit der Diskrepanz ist behoben, und das Fußballerlebnis mit Freunden und Familie ist wunderbar", freut sich Seuß.