Videobeweis in England Schon in der Testphase verspottet
In England wird in dieser Saison in ausgewählten Pokalspielen der Videobeweis getestet. Die Probleme sind die gleichen wie in Deutschland. Die Einführung in der kommenden Spielzeit könnte auf der Kippe stehen.
Irgendwie klingen die Klagen bekannt, die in England über den Videobeweis, Kurzform VAR, zu hören sind. Ein paar Beispiele:
- "Der Videobeweis ruiniert das Spiel, weil er zu viel Zeit braucht", schreibt die "Sun".
- "Der Videobeweis verhindert einige Ungerechtigkeiten, hemmt aber den Spielfluss und die Spontaneität, die den Fußball so besonders machen", findet Henry Winter, der Starschreiber der "Times".
- "Wir verändern das Spiel, das wir lieben. Wir dürfen die Emotionen nicht töten", sagt Mauricio Pochettino, der Trainer von Tottenham Hotspur.
Es sind die gleichen Klagen, mit denen der Videobeweis auch in der Bundesliga rezensiert wird. In England wird das System in dieser Saison in ausgewählten Spielen im Ligapokal und im FA-Cup getestet und stiftet immer wieder Ärger und Verwirrung. Nicht unbedingt, weil die Entscheidungen falsch wären, sondern weil die Entscheidungsfindung oft mehrere Minuten dauert und den Zuschauern nicht erklärt wird. Hierzulande kennt man das schon.
- Verena Knemeyer
- Alle Folgen der Kolumne "Life Goals"
Tottenhams 6:1-Erfolg im FA-Cup gegen Rochdale am Mittwochabend ist die jüngste Partie, die durch den Videobeweis geprägt wurde. Ein frühes Tor für Pochettinos Team wurde zurückgenommen, nachdem die Spieler den Treffer schon ausgiebig bejubelt hatten. Ein Freistoß wurde in einen Elfmeter umgewandelt, nachdem sich die Mauer schon aufgestellt hatte. Bis zur Entscheidung dauerte es jeweils Minuten.
Die Zuschauer buhten. Das System wird in England schon in der Testphase verspottet - sogar von den Beteiligten: Tottenhams Heung-Min Son feierte in der Partie ein Tor, indem er mit den Fingern ein Rechteck in die Luft malte, eigentlich das Handzeichen des Schiedsrichters für den Videobeweis.
Vorher hatte es bei Chelseas Partie gegen Norwich City Mitte Januar Probleme gegeben, als der Videobeweis eine falsche Entscheidung bestätigte und Chelseas Offensivmann Willian einen Elfmeter verweigerte. Auch bei Liverpools 2:3-Niederlage gegen West Bromwich Albion Ende Januar spielte das Hilfsmittel eine große Rolle. Nach Konsultation der Technik wurde West Bromwich ein Tor aberkannt und Liverpool ein Elfmeter zugesprochen. Beide Entscheidungen waren korrekt, wieder nahmen sie allerdings mehrere Minuten in Anspruch und nervten die Zuschauer im Stadion.
Bei Manchester Uniteds 2:0-Erfolg bei Huddersfield Town vor zwei Wochen war Juan Matas Abseitstor durch den Videobeweis zurecht zurückgenommen worden, trotzdem wurde über das System gelacht, weil im Fernsehen eine Abseitslinie eingeblendet wurde, die aussah wie von einem Dreijährigen gezeichnet. Der Anbieter musste um Entschuldigung bitten.
Auch wenn der Videobeweis nicht im alltäglichen Premier-League-Betrieb eingesetzt wird, zumindest noch nicht, ist die Diskussion über das Hilfsmittel mit voller Wucht in England angekommen. Die überwiegende Meinung ist, dass es sich um eine gute Idee handelt, die in der gegenwärtigen Umsetzung allerdings nicht funktioniert.
Gute Idee, schlechte Umsetzung
"Die Einführung des Videobeweises ist sinnvoll, Fußball kann kein Land der Technikfeinde sein, wenn so viel auf dem Spiel steht, aber er muss vernünftig eingesetzt werden", schreibt "Times"-Autor Winter. Er meint damit: Die Entscheidungen müssten schneller getroffen und die Zuschauer im Stadion über die Entscheidungsfindung im Bilde sein.
Bislang wird das Publikum über die Anzeigetafeln informiert, dass der Schiedsrichter den Videobeweis konsultiert. Per Headset bespricht er sich mit seinen Helfern, die in einem Raum in der Nähe des Londoner Flughafens Heathrow vor Fernsehschirmen sitzen. Sein Urteil wird den Zuschauern nicht erklärt. Für die Stadionbesucher ein unhaltbarer Zustand.
"Die Schiedsrichter machen auch nur ihren Job und müssen noch lernen. Aber so ist es eine Farce", sagt James, seit fast 14 Jahren Besitzer einer Dauerkarte bei Tottenham. Er war auch gegen Rochdale im Stadion und erlebte bizarre Szenen. Er berichtet, dass sich die umstehenden Zuschauer über die Sozialen Medien informiert hätten, warum der Schiedsrichter welche Entscheidung getroffen hätte. "Ein Spiel sollte nicht über das Handy verfolgt werden. Man sollte hier und jetzt im Stadion verstehen, was vor sich geht", sagt er.
Wie geht es weiter mit dem Videobeweis in England?
James hält den Videobeweis für ein gutes Konzept, das allerdings deutlich schlechter zur Anwendung kommt als im Cricket, im Tennis oder beim Rugby: "Im Fußball scheint es komplizierter zu sein. Vielleicht, weil Fußball so beliebt ist und überall im Fernsehen übertragen wird. Alle geben sich besonders viel Mühe - und verursachen dadurch noch mehr Chaos." Wie geht es also weiter mit dem Videobeweis in England?
Am Wochenende entscheiden die Regelhüter des internationalen Fußballs bei ihrem Treffen in Zürich voraussichtlich, das Hilfsmittel fest ins Regelwerk aufzunehmen. Ob es genutzt wird, dürfte den Veranstaltern der einzelnen Wettbewerbe überlassen bleiben.
"Glauben Sie wirklich, dass die Zuschauer dabei bleiben?"
Bei den Freundschaftsspielen der englischen Nationalmannschaft im März gegen die Niederlande in Amsterdam und gegen Italien im Wembley-Stadion wird der Videobeweis zum Einsatz kommen, zur Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft im Sommer in Russland, bei der das System ebenfalls angewendet werden soll. Vor diesem Hintergrund scheint es fast unausweichlich, dass es irgendwann auch in der Premier League eingeführt wird. Doch bis dahin könnte es länger dauern als geplant.
Bislang galt als sicher, dass die Vereine die Einführung in der Liga schon zur neuen Saison beschließen würden. Die holprige Testphase in den Pokalwettbewerben hat bei dem einen oder anderen Verantwortlichen allerdings Zweifel an der Technik hervorgerufen. "Glauben wir wirklich, dass die Zuschauer dabei bleiben, wenn es bis zu einer Entscheidung vier bis acht Minuten dauert und diese Entscheidung dann vielleicht sogar falsch ist?", fragt Steve Parish, der Vorsitzende von Crystal Palace. Er scheint das nicht zu glauben.