Hamburger Kleidermacher Der mit dem Maßterplan
Ein perfekt sitzender Anzug ist die Königsdisziplin der Herrenschneiderei. Dafür braucht es dreieinhalb Meter Stoff und viel Fingerspitzengefühl. Auf Tuchfühlung mit einem der letzten selbstständigen Maßschneider Hamburgs.
Die Frage nach seinem Meisterstück versteht Uwe Müller nicht, er findet sie dämlich. "Jedes Stück muss ein Meisterstück sein", sagt der Schneider. Blau-weiß kariertes Hemd, Krawatte mit Paisleymuster, dazu ein jagdgrüner Pullover, eine graue Hose und braune Derbys: Ein bisschen sieht der 48-Jährige aus wie ein Lehrer, ein eleganter Mathelehrer an einem englischen Internat. Wären da nicht die drei Maßbänder um seinen Hals, die erahnen lassen, dass die einzigen Kurvendiskussionen, auf die er sich einlässt, die mit seinen Kunden sind.
Dabei hat die Arbeit eines Maßschneiders sehr viel mit Zahlen und Formeln zu tun. Das Geheimnis eines perfekt sitzenden Anzugs, der Königsdisziplin der Herrenschneiderei, beginnt mit dem richtigen Maßnehmen. Aus den fünf Hauptmaßen - Körpergröße, Oberweite, Unterweite, Gesäßweite, Ärmellänge - sowie diversen Ergänzungs- und Kontrollmaßen kann ein Schneider viel ableiten: ein Viertel der Körpergröße entspricht zum Beispiel in etwa der Rückenlänge.
Der Goldene Schnitt
Wie ein Maler oder Bildhauer weiß ein Schneider um die Gesetzmäßigkeiten, die harmonischen Proportionen zugrunde liegen. Und wie jeder Künstler teilt ein Schneider den menschlichen Körper in acht Kopflängen, so dass der Kopf die Ausgangsbasis bildet für die Längen und Breitenverhältnisse des menschlichen Körpers. Er bedient sich dieses proportionalen Systems, um später in seiner Arbeit dem Ideal des klassischen Aktes aus der Antike so nahe zu kommen wie möglich. Es gibt in diesem Handwerk keine festen Formeln, dafür sind die Menschen und ihre Körper zu verschieden, doch mit Geometrie hat es sehr viel zu tun. Und mit Vertrauen.
Beim Maßnehmen - häufig die erste Gelegenheit, bei der Uwe Müller seine Kunden trifft - kommt er den Menschen sehr nah. Er muss sie dazu bringen, ehrlich zu sein, ihnen sagen, dass sie den Bauch nicht einziehen, sondern rausstrecken sollen. Ihn zu verstecken, ist dann sein Job. Dabei kommt der Brustpartie eine zentrale Bedeutung zu, für die Architektur eines Sakkos ist sie ungemein wichtig. Sie verleiht dem Träger breite Schultern und eine betonte Brust, selbst wenn die Statur das vielleicht nicht unbedingt hergibt.
Uwe Müller kann nicht zaubern, aber durch einen gut gemachten Brustabnäher kann er eine schön taillierte Form erreichen. Gerade modelliert er die Vorderseite eines Herrensakkos. Schurwolle mit Nadelstreifen, 130er-Garn von Scabal aus England, sehr fein. Mit vier Fingern seiner linken Hand, die er zwischendurch anfeuchtet, streicht er den dunkelblauen Stoff über die Einlage. Dabei handelt es sich meist um Steifleinen oder Rosshaareinlagen. Mit der Einlage wird der Unterbau der Sakkofront konstruiert. Sie sorgt dafür, dass das Sakko später seine Passform behält.
Gute Sakkos erkennt man daran, dass die Einlage nur lose mit dem Stoff verbunden ist. "Die Industrie klebt das einfach nur", sagt Uwe Müller. Er nutzt dafür 21 Pikiernähte, gesetzt mit Ährenstichen. Wobei Naht eigentlich das falsche Wort ist. "Es entsteht keine Naht, sondern eine lebendige Verbindung zweier Flächen", heißt es dazu in Ruth Sprengers "Die hohe Kunst der Herrenkleidermacherei". Das Buch ist Müllers Bibel. Hier ist vieles von dem festgehalten, was er im Laufe der Jahre gelernt hat, und noch mehr von dem, was heutzutage aus Kostengründen nur noch selten gemacht wird.
Das erste Mal genäht hat er allerdings mit einer anderen Frau. Seine Großmutter brachte ihm damals in der DDR Nähen, Stricken und Häkeln bei. "Nach der zehnten Klasse wusste ich, dass ich Schneider werden sollte", erinnert er sich. Für das Abitur hätte er drei Jahre zur Armee gemusst, also ging er zur VEB Hauswirtschaft. Er stellte sich vor und wurde genommen. Als er mit der Lehre fertig war, wurde er arbeitslos. 1990 gab es in diesem Teil des Landes für viele wenig zu tun.
"Nach der zehnten Klasse wusste ich, dass ich Schneider werden sollte."
Also Neuorientierung auf der Modeschule in Halle. Danach arbeitete er in einer Damenschneiderei in Grimma. 1997 zog es ihn mit seiner Frau nach Hamburg. Wieder lernte er dazu. Aus seiner Zeit auf der Gewandmeisterschule, der einzigen im deutschsprachigen Raum, stammt viel seines Wissens über historische Kleider.
Doch mit Künstlern am Theater zu arbeiten, ist anstrengend. Auch bei einem noblen Hamburger Herrenausstatter war er nicht richtig aufgehoben. Nach vier Jahren kündigte er. Wie sehr ihm das Handwerk gefehlt hatte, zeigte sich erst jetzt. Uwe Müller wurde krank und blieb es für eineinhalb Jahre.
Als er wieder gesund war, beschloss er, sich selbstständig zu machen. Er mietete sich ein in eine Werkstatt in einer ehemaligen Maschinenfabrik in Hamburg-Winterhude. Zwischen Stoffballen, großen Zuschneidetischen und Nähmaschinen empfängt er seine Kunden. Meistens läuft dabei klassische Musik. Für deren Auswahl ist sein Geselle Thomas zuständig.
Heute singt aber Louis Armstrong: "Got a bran' new suit. Got a bran' new tie. Got a bran' new twinkle in my eye." Gleich wird ein Kunde zur Anprobe vorbeikommen. Meist sind zwei Termine nötig, bis ein Kunde seinen Anzug mit nach Hause nehmen kann. In der Regel hat Uwe Müller dann 70 Stunden Arbeit investiert. In diesen zwei Wochen verarbeitet er ungefähr dreieinhalb Meter Stoff.
Mit der flachen Hand fährt er vom Bund über den Rücken nach oben zur Schulter. Wenn das Sakko an der Schulter passt, ist der Rest fast egal. Es passt leider nicht. "Der Rücken muss noch mal komplett raus", stellt Müller fest. Links unter dem Arm zieht der Stoff eine Falte, er muss aber glatt fallen. Die rechte Seite muss ein Stück höher - der Kunde hat eine Hängeschulter. Alles kein Problem für Müller. Er braucht einfach noch einen Tag länger. "Maßanzug bedeutet vor allem, dass du dich darin wohlfühlst", sagt Müller.
Nichtsdestotrotz ist seine Kundenkartei überschaubar. Vor allem Stammkunden, deren Maßkarten seit Jahren bei ihm stehen, kommen zu ihm. Der Markt für maßgeschneiderte, handgemachte Kleidung ist klein. Egal wie lange sie halten, nicht jeder kann sich einen Anzug für zweieinhalbtausend Euro oder eine Hose für 400 Euro leisten. Als zweites Standbein fertigt Müller deswegen Reit- und Jagdkleidung an. Seit einiger Zeit betreibt er außerdem mit Thomas einen eigenen Laden. Sie glauben an ihre Arbeit und deren Wert. Als "Musterknaben" verkaufen sie im Hamburger Karoviertel vor allem Accessoires wie Fliegen oder Hemden. Hier kann man ihnen auch bei der Arbeit zuschauen. Wer es nicht gesehen hat, versteht häufig nicht, wie viele Arbeitsschritte in einem Kleidungsstück stecken.
Ob er den Beruf noch einmal ergreifen würde, weiß Uwe Müller nicht. Wieder so eine Frage, die er überflüssig findet. Er überlegt kurz. Heute würde er vielleicht Kunst oder Geschichte studieren. Dann sagt er: "Mir macht das Spaß."