EU-Vorschlag zu Sammelklagen "Eine Klageindustrie kann es in Deutschland nicht geben"
Die EU-Kommission will Sammelklagen für Verbraucher gegen Konzerne einführen. Wie sehr das geschädigten VW-Kunden helfen könnte und was die deutsche Justizministerin vorhat, erklärt Rechtsprofessor Thomas Möllers.
SPIEGEL ONLINE: Herr Möllers, haben Verbraucher in der EU künftig die Möglichkeit, Sammelklagen wie in den USA einzureichen?
Thomas Möllers: Wenn der Vorschlag der EU-Kommission umgesetzt wird, ja. Allerdings in einer anderen Form. In Deutschland gibt es bisher keine Sammelklage.
SPIEGEL ONLINE: Manchen Beobachtern der VW-Gerichtsprozesse erscheint es so, als wenn es die in abgewandelter Form schon gäbe: Im November hat der Rechtsdienstleister MyRight für 15.000 Menschen haben beim Braunschweiger Landgericht Klage gegen VW eingereicht mit den Worten: "die größte Sammelklage Europas".
Möllers: Diese Klage wird gelegentlich fälschlicherweise als Sammelklage bezeichnet, genaugenommen ist das aber nicht richtig. Beim Prozess am Braunschweiger Landgericht handelt es sich um VW-Dieselbesitzer, die ihre Ansprüche gegen VW an MyRight abgetreten haben. Diese Firma verlangt nun vor Gericht von VW die Rückzahlung des Autokaufpreises gegen Rückgabe des Fahrzeugs. Dahinter steht die Hoffnung, dass das Gericht die ähnlich gelagerten Fälle zusammenfassend behandelt. Das lassen sich Anbieter wie MyRight teuer bezahlen: Im Erfolgsfall streichen sie 35 Prozent einer möglichen Entschädigung selbst ein. Eine elegantere Lösung wäre es, die geplante europäische Sammelklage auch für die klagenden Institutionen attraktiv zu machen, aber ein 35-prozentiges Erfolgshonorar zu verhindern.
- Andreas Brücklmair
SPIEGEL ONLINE: Bundesjustizministerin Katarina Barley setzt darauf, die Möglichkeiten der Musterfeststellungsverfahren zu erweitern.
Möllers: Bei dem Vorschlag von Frau Barley soll das Musterfeststellungsverfahren im Kapitalrecht auf andere Sachverhalte übertragen werden, etwa bei Fragen für Verbraucher.
SPIEGEL ONLINE: Wie würde das ablaufen?
Möllers: Wenn beispielsweise in 300 Verfahren in Deutschland verhandelt wird, ob VW-Kunden wegen der Abschalteinrichtung ein mangelhaftes Auto erworben haben, kann das verbindlich einmal vom Gericht geklärt werden - das gilt dann als ein Muster, das auf die anderen Verfahren rechtlich bindend angewendet wird. Allerdings werden bei solchen Verfahren nur einzelne verallgemeinerungsfähige Fragen in dem Musterprozess verbindlich vom Landgericht geklärt. Geklärt ist dann aber nicht, ob auch die anderen Voraussetzungen einer Klage vorliegen, etwa wie hoch der Schaden oder der Wertverfall für den einzelnen Kunden ist. Das würde dann in 300 Verfahren individuell geklärt.
SPIEGEL ONLINE: Und bei einer Sammelklage?
Möllers: Da können sich tatsächlich alle Kläger zusammentun. Es gibt dann nur ein einziges Verfahren, eine einzige Schadenssumme. Das bedeutet auch: Es gibt dadurch weniger Verfahren, weniger Kosten für den Staat. Das ist der Vorteil, Experten sprechen von verbesserter Prozessökonomie. Ein gutes Beispiel für Sammelklagen ist der Film "Erin Brockovich" mit Julia Roberts, den ich auch immer meinen Studenten empfehle. Dort klagen 600 Nachbarn mit einer Anwaltskanzlei gegen ihren Grundwasserversorger, weil ihr Wasser mit krankmachendem Chrom(VI) vergiftet ist. Ihre Klage hat Erfolg. Eine wahre Geschichte übrigens.
SPIEGEL ONLINE: Und das soll nun auch im EU-Recht möglich werden, wie es EU-Justizkommissarin Vera Jourova am Mittwoch vorgeschlagen hat.
Möllers: Richtig, allerdings in einer abgemilderten Form. In den USA erhalten Anwälte eine Erfolgsprämie, wenn sie den Prozess gewinnen. Die Kläger selbst müssen nichts zahlen, für sie besteht also überhaupt kein Risiko bei einer Klage. Die Kanzleien erhalten ihr Geld, wenn sie einen Schadensersatz erstritten haben. Darauf spezialisierte Kanzleien in den USA halten also immer Ausschau danach, wo sie ein gutes Geschäft mit einer Klage machen können. Das führt dort zu absurden Prozessen, es gibt eine richtige Klageindustrie. In Deutschland kann es so etwas aber nicht geben, wir haben unsere Gebührenordnung für die Anwälte.
SPIEGEL ONLINE: Und wie verhält es sich mit dem Vorschlag der EU-Kommission?
Möllers: Dieser sieht vor, dass nicht Anwälte klagen, sondern nur bestimmte Institutionen wie etwa Verbraucherverbände. Es geht also nicht um profitorientierte Kanzleien, die sich die Kläger zusammensammeln. Daran könnte man aber auch Kritik üben: Denn für solche Klagen braucht es einen hohen Sachverstand. Oft haben die Verbraucherverbände diesen aber nicht.
SPIEGEL ONLINE: In den USA konnten VW-Kunden vom Autokonzern sich mit mehr als 5000 Dollar entschädigen lassen oder ihr Auto zurückgeben. Wäre das mit dem geplanten Gesetz auch in Deutschland möglich?
Möllers: Wahrscheinlich nur für künftige Fälle. Ende 2018 verjährt der Anspruch für die geschädigten VW-Kunden. Es handelt sich sowohl bei dem Vorschlag von der EU-Kommission als auch bei dem der Bundesregierung bisher nur um Entwürfe, den eigentlichen Gesetzgebungsprozess müssen sie noch überstehen, das wird zeitlich kaum bis zur Verjährung zu schaffen sein.