Verspätete Züge, kaputte Technik, Personalmangel Was bei der Deutschen Bahn alles schiefläuft
Jahrzehnte des Missmanagements haben die Deutsche Bahn zum Sanierungsfall werden lassen. Die Probleme sind riesig - es dürfte Jahre dauern, sie zu lösen. Für Bahn-Chef Lutz ist das möglicherweise zu lange.
In unterhaltsamen Runden dreht sich das Gespräch meist um unverbindliche Themen wie das Wetter oder den Urlaub, vielleicht noch um den Dieselskandal - oder die Deutsche Bahn.
Kaum einer, der nicht eine Anekdote zu berichten hätte, teils skurril, teils empörend. Am Rande eines Fußballspiels der örtlichen D-Jugend berichtete etwa einer im elterlichen Fanklub über eine Reise, die unfreiwillig am Wolfsburger Hauptbahnhof endete. Er hatte in einem berstend vollen ICE gesessen, dessen Lokführer die Fahrt nur fortsetzen wollte, wenn ein deutlicher Teil der Fahrgäste in Wolfsburg ausgestiegen sei - ob sie dorthin wollten oder nicht. Bei anderer Gelegenheit erzählte jemand von einer spätabendlichen Taxifahrt von Hannover nach Berlin zusammen mit zwei Mitreisenden aus einem Zug, der seine Fahrt wegen Überschreitung der Dienstzeit der Zugbesatzung nicht fortsetzen konnte.
Keine Frage: Kein Unternehmen in Deutschland (abgesehen von Volkswagen vielleicht), erhitzt derzeit die Gemüter so wie die Bahn. Selbst passionierte Bahnreisende verlieren die Geduld.
Tricks zur Schönung der Statistik
Die gusseisernen Schienenfans lehnen es zwar ab, von "individuellen Erfahrungen" Rückschlüsse auf das ganze Unternehmen abzuleiten. Die Statistiken indes, die ja eher den Blick aus der Distanz ermöglichen, belegen die Erfahrungen der Kritiker - so wie die jüngst veröffentlichte Jahresbilanz für 2018. Demnach hatte gut jeder vierte Fernzug Verspätung - wobei all jene Züge gar nicht mitgerechnet werden, die dem Fahrplan weniger als sechs Minuten hinterherfahren. Ebenso wenig wie die, die ihr Ziel gar nicht erreichen.
Auf der Verbindung Berlin - Düsseldorf fahren ICEs mit großer Verspätung seit dem Sommer nicht mehr bis zum eigentlichen Zielbahnhof, sondern enden eine oder zwei Stationen früher, damit sie auf dem Rückweg wenigstens wieder im Takt sind. Dabei geht dann selbst die abgebrochene Reise nicht mehr als verspätet in die Statistik ein.
Und noch in anderer Hinsicht bilden die Zahlen nicht die ganze triste Alltagswirklichkeit ab. Außen vor bleiben zum Beispiel die ungezählten sogenannten Komfortmängel. Sie betreffen nicht die Betriebsbereitschaft oder Sicherheit eines Zuges und werden deshalb hintangestellt, wenn die Zeit in der Werkstatt knapp wird. Die Fahrgäste bekommen sie dafür umso deutlicher zu spüren - wenn die Toiletten, Klimaanlagen oder Heizungen ausfallen, die Vorräte im Bordbistro leer sind oder das WLAN-Netz ausfällt.
Außen vor bleiben auch die Zustände zu Spitzenzeiten, in denen Züge so überfüllt sind, dass bei Passagieren Sorge aufkommt, wie man es wohl am Zielbahnhof aus dem Waggon schafft. Oder die umgekehrten Wagenreihungen, von denen die Fahrgäste erst kurz vor der Abfahrt auf dem Bahnsteig erfahren. Dann heißt es regelmäßig, den langen Zug entlang zu hasten - mit vollem Gepäck und gegen den Strom der anderen Fahrgäste.
Schwierige Rahmenbedingungen
Fragt man in der Konzernzentrale nach den Gründen für die Vielzahl der frustrierenden Reiseerlebnisse, kommt der Verweis auf das schlechte Wetter, und die vielen Baustellen, die die Modernisierung von Gleisen und Stellwerken nach sich ziehen. Und die stark gestiegenen Passagierzahlen: Gegenüber dem Rekordjahr 2017 seien es im Fernverkehr allein im ersten Halbjahr 2018 noch einmal 3,9 Prozent mehr Fahrgäste gewesen.
Den Verweis auf die Paradebeispiele aus Japan, wo die Fernzüge eine Pünktlichkeitsquote von 99 Prozent erreichen (wobei schon jede kleinste Verspätung erfasst wird), der Schweiz oder den Niederlanden (jeweils rund 90 Prozent) kontern die Bahn-Leute mit den völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Schließlich verkehre der japanische Schnellzug Shinkansen auf einem eigenen Schienennetz. In Deutschland hingegen müssen sich die Hochgeschwindigkeitszüge ein Gleis mit Regional- und Güterzügen teilen. Nur wenige Strecken sind eigens für ICEs reserviert.
Das Problem hat die Bahn allerdings selbst geschaffen: durch die Lichtung des Gleisnetzes in den vergangenen 25 Jahren. Rund 5400 Kilometer Schienen wurden abgebaut. Die Folge: Es existieren kaum noch Möglichkeiten, langsam fahrende Züge zu überholen. Jede Störung zieht deshalb eine ganze Reihe weiterer nach sich.
Ein zweiter ebenso gravierender Fehler geht ebenfalls weit in die Vergangenheit zurück. Um die neu gegründete Bahn AG nach der Wiedervereinigung fit für die Börse zu machen, verordnete der damalige Bahn-Chef Hartmut Mehdorn dem Unternehmen einen strikten Sparkurs, verbunden mit dem Abbau Tausender Arbeitsplätze. Mit der "Rente mit 63" trug die Bundesregierung 2014 weiter zur Verschärfung der Situation bei. Viele erfahrene Mitarbeiter quittierten den Dienst, ohne dass Nachwuchs zur Verfügung stand.
Spätfolgen des Mehdorn-Managements
Den Aderlass hat die Bahn bis heute nicht verkraftet: Es fehlen Lokführer, Zugbegleiter, Stellwerktechniker und Mechaniker für Reparatur und Wartung. Reserven, um Ausfälle im Dienstplan auszugleichen, sind praktisch nicht mehr vorhanden. Die über Jahre hinweg kontinuierlich überforderten Mitarbeiter achten inzwischen peinlich genau auf die korrekte Einhaltung der Arbeitszeit, viele haben innerlich gekündigt.
In dieser Gemengelage wirkt sich der nassforsche Managementstil, den Mehdorn zusammen mit Unternehmensberatern bei der Bahn eingeführt hat, umso verheerender aus. Abteilungen, die sich einst dem Ganzen verpflichtet fühlten, sind jeweils nur noch um ihre eigene Performance bemüht. Die Arbeit für eine andere Einheit mit zu erledigen, kommt nicht infrage. "Niemand fühlt sich mehr verantwortlich, wenn Züge nicht rechtzeitig bereitgestellt werden", beschreibt Christian Böttger, Professor an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Technik, den Alltag der Bahner. Ein eng getakteter Arbeitsablauf gerät so schnell ins Stocken.
Um die Kooperation im Unternehmen zu verbessern, wolle Bahn-Chef Richard Lutz mit seinem Programm "für eine bessere Bahn" die Chefs der Güterverkehrstochter Cargo, des Fern- und des Regionalverkehrs in den bislang sechsköpfigen Konzernvorstand aufrücken lassen, heißt es in informierten Kreisen.
Aufsichtsrat zweifelt an Plänen
Die Konsequenzen des jahrzehntelangen Missmanagements werden jedoch so einfach und vor allem kurzfristig nicht zu beheben sein. Schon allein, weil die notwendigen qualifizierten Arbeitskräfte fehlen. Der Arbeitsmarkt ist derzeit praktisch leergefegt. Und selbst wenn sich jemand für die mäßig bezahlten Stressjobs bei der Bahn entscheiden sollte - so viele Leute, wie kurzfristig nötig wären, um spürbare Verbesserungen zu erzielen, kann der Konzern gar nicht auf einmal ausbilden.
Hinzu kommt die hohe Schuldenlast, die einen kurzfristigen Umschwung verhindert. Nach Überzeugung von Bahn-Kenner Böttger wären bis zum Jahr 2030 rund 80 Milliarden Euro nötig, um die notwendigen Renovierungen und Zukunftsaufgaben wie Netzausbau und Digitalisierung zu finanzieren. Zugesichert habe der Bund als Eigentümer aber bislang lediglich 20 Milliarden Euro. Zusätzliches Geld soll jetzt der Verkauf der Auslandstochter DB Arriva einbringen, deren Wert Experten auf rund vier Milliarden Euro taxieren.
Ob Lutz' Programm die Lösung bringt, bezweifelt Böttger. Ebenso wie der Bahn-Aufsichtsrat, dem der Bahn-Chef die Pläne am Dienstag präsentierte. Er sei mit den Ausführungen des Konzernvorstands "nicht zufrieden", sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Verkehrsministerium, Enak Ferlemann nach dem Treffen. An diesem Donnerstag soll der Bahn-Chef Gelegenheit bekommen, seine Pläne zu präzisieren. Es könnte eine seiner letzten Chancen sein.
Im Video: Eine Woche als Schaffner