Hirnforschung Wie Top-Mathematiker ticken
Sie beeindrucken mit ihren messerscharfen Analysen und genialen Ideen. Was aber geschieht im Gehirn von Mathematikern, wenn sie über knifflige Fragen nachdenken? Hirnscans zeigen es.
Etwas schusselig, realitätsfern und irgendwie sonderbar - das ist das gängige Klischee von einem Mathematiker.
Es mag ihn so tatsächlich geben, aber natürlich kommen Mathematiker in ganz unterschiedlichen Ausführungen daher - vom eher zurückhaltenden Schöngeist und dem gesprächigen Netzwerker bis zum eitlen Pfau, der das Rampenlicht sucht.
Doch so groß die Streuung bei den Persönlichkeitsmerkmalen auch ist: Ticken Mathematiker ganz tief drin womöglich doch ähnlich? Was passiert in ihrem Gehirn, wenn sie über mathematische Probleme grübeln?
Um diese Fragen zu klären, haben Marie Amalric und Stanislas Dehaene vom Institut national de la santé et de la recherche médicale (Inserm) in Paris 15 französische Top-Mathematiker, darunter auch Professoren, in einen Hirnscanner gesteckt. Dort sollten sie dann anspruchsvolle Fragen aus den Bereichen Geometrie, Algebra, Topolgie und Analysis beantworten. Zum Beispiel jene, ob die Randpunkte einer sogenannten Cantor-Menge dieser Cantor-Menge entsprechen (Die richtige Antwort lautet übrigens: Ja).
Einstein versus Chomsky
Die ganze Zeit über beobachteten die Forscher, welche Hirnregionen aktiv waren. Solange die Mathematiker über mathematische Probleme nachdachten, waren jene Regionen besonders stark durchblutet, in denen räumliches Denken und der abstrakte Zahlensinn verortet werden. Die für Sprache zuständigen Bereiche hingegen seien nicht verstärkt aktiv gewesen, berichten die Forscher im Fachblatt "Proceedings of the National Academy of Sciences".
Das klingt plausibel - und bestätigt ganz nebenbei auch Albert Einstein. Er hatte einst gesagt: "Wörter und Sprache, egal ob geschrieben oder gesprochen, scheinen in meinem Denkprozess keine Rolle zu spielen". Für ihn waren die in der theoretischen Physik omnipräsente Mathematik und Sprache völlig verschiedene Denkkategorien.
Doch es gibt auch gegenteilige Aussagen, etwa von Noam Chomsky, einem der renommiertesten Sprachwissenschaftler der Gegenwart. Er interpretiert die Mathematik als Ableger der Sprache. Ihr Ursprung liege in der "Abstraktion linguistischer Operationen". Wenn ein Kleinkind also unbewusst Muster in seiner Muttersprache analysiert, müsste es zugleich sein mathematisches Denken schulen.
Ausnahme Kopfrechnen
Ein schmaler Bereich der Mathematik ist übrigens tatsächlich und im Unterschied zur höheren Mathematik eng mit Sprache verbunden: das Kopfrechnen.
Es fängt an beim Merken von Zahlen. Dies geschieht nicht etwa abstrakt, sondern über die gesprochenen Zahlen. Chinesen etwa können sich auch längere Telefonnummern besser merken als Deutsche, weil die Zahlwörter im Chinesischen deutlich kürzer sind. Der Mensch prägt sich Zahlenkolonnen nämlich akustisch ein. Und unser Kurzzeitspeicher im Gehirn umfasst nur wenige Sekunden. Da passen dann einfach mehr chinesische Ziffern hinein als deutsche, denn chinesische Ziffern sind sämtlich einsilbig.
Auch das Einmaleins belegt die enge Verbindung von Zahlen und Sprache in unserem Kopf. Psychologen haben sich Rechenfehler genauer angeschaut. Diese verraten nämlich, wie das Einmaleins im Kopf gespeichert ist. Nehmen wir zum Beispiel 7*8. Das richtige Ergebnis lautet 56, vielleicht sagt jemand aber auch mal 54 (=9*6) oder 48, 63, 64. Praktisch nie genannt werden hingegen 47, 51, 52 oder 58.
Die Crux des Einmaleins
Warum ist das so? Die Zahlen 48, 54, 63 und 64 kommen als Ergebnis in der Tabelle des Einmaleins vor. Wir haben Sie abgespeichert - aber beim Abrufen des Ergebnisses von 7*8 danebengegriffen. 47, 51, 52 und 58 dagegen tauchen nicht im Einmaleins auf - diese Zahlen kommen uns deshalb auch kaum in den Sinn. Daher lautet die Erkenntnis der Psychologen: Das Einmaleins ist genauso auswendig gelernt wie die Vokabeln einer Fremdsprache.
Und deshalb verwechseln wir im Englischen then und than ebenso gern wie beim Rechnen 54 und 56. Wer also behauptet: "Ich kann nicht so gut rechnen, weil meine Talente eher im Sprachbereich liegen", sagt eigentlich nur, dass er sich mit dem Büffeln von Vokabeln mehr Mühe gibt als mit dem Einmaleins.
Simples Kopfrechnen hat kaum etwas mit höherer Mathematik zu tun - auch das kann man als Ergebnis der neuen Studie aus Frankreich sehen. "Unsere Arbeit zeigt, dass hoch entwickeltes mathematisches Denken Sprachareale nur minimal nutzt", berichten Amalric und Dehaene. Nur ein kleiner Teil des arithmetischen Wissens sei in linguistischer Form abgespeichert, wie frühere Studien gezeigt hätten.
Wie Kauderwelsch
Als Vergleichspersonen untersuchten die Forscher übrigens auch 15 Geisteswissenschaftler, die ebenso hoch qualifiziert waren wie die 15 Mathematiker. Allen 30 Probanden wurden die gleichen Fragen gestellt, in denen es nicht nur um höhere Mathematik, sondern auch um Natur und Geschichte ging.
Die Forscher hatten unter alle Aussagen bewusst auch solche gestreut, die unsinnig waren und nicht mit wahr oder falsch bewertet werden konnten. Es gab also mathematischen Nonsens, den nur die Mathematiker als solchen identifizieren konnten, wie: "Jede lokale ellipsoidale Submersion ist das Exponential einer Riemannschen Fläche." Aber auch nichtmathematische Quatschaussagen, zum Beispiel: "Die meisten Roboterstiere waren noch nie in Jugoslawien." Hier sollten die Probanden erkennen, dass diese Aussage weder richtig war noch falsch, sondern unsinnig ist.
Die Hirnscans zeigten dann, dass Geisteswissenschaftler unsinnige Statements aus Natur und Geschichte kaum von Aussagen aller Art aus der höheren Mathematik unterscheiden können. Ganz gleich ob diese Algebra- oder Topologie-Statements nun wahr, falsch oder unsinnig waren. Die Gehirnaktivitäten der Geisteswissenschaftler waren in allen Fällen nahezu gleich und signalisierten: Das muss Unsinn sein.
Fazit der Forscher: "Mathe klingt für Nichtmathematiker wie Kauderwelsch." Zumindest zu dieser Erkenntnis hätten sie auch ohne Hirnscanner gelangen können.