Faszinierende Fadenwesen Was der Mensch von Pilzen lernen kann
Pilze sind viel mehr als das, was in der Pfanne landet. Tatsächlich ziehen sie sich als geheimnisvolle Fadenwesen Tausende Kilometer durch unsere Böden. Manche leben als Parasiten und töten grausam. Andere sind Meister der Zusammenarbeit.
- Robert Hofrichter
SPIEGEL ONLINE: Herr Hofrichter, viele unterschätzen Pilze, weil sie nur einen winzigen Teil von ihnen sehen können. Was ist mit denn mit dem Rest?
Hofrichter: Was wir sehen, sind nur ihre Fruchtkörper. In der Realität sind Pilze viel mehr als das - geheimnisvolle Fadenwesen, die im Verborgenen unter der Erde leben. In einem Kubikmeter Waldboden können Hunderte Kilometer Pilzfäden vorkommen. Dort findet ein reger Tauschhandel statt: Die Pilze geben fast alle Mineralien, die sie im Boden finden, an die umliegenden Pflanzen ab. Im Gegenzug versorgen die Bäume sie mit Zucker, damit sie wachsen können. Bäume können bis zu ein Fünftel ihres Zuckers an Pilze weitergeben.
SPIEGEL ONLINE: Nicht immer geht es so friedlich zu. Pilze können auch anders.
Hofrichter: Das stimmt. Neben dem Boden können Pilze auch in Pflanzen und Lebewesen gedeihen - im besten Fall nach ihrem Tod, im schlimmsten Fall aber auch in lebenden. Im Regenwald gibt es etwa parasitische Pilze, die Ameisen befallen und sie dazu bringen, wie Zombies auf Pflanzen zu klettern. Dort beißen sich die Insekten in etwa 25 Zentimeter Höhe fest - perfekte Bedingungen für den Pilz. Nachdem die Ameise durch einen Giftcocktail gestorben ist, lässt der Pilz seine Fäden aus ihrem Körper wachsen. Die nächsten Tage ernährt er sich von den inneren Organen des Tieres, bis sein Fruchtkörper reif ist und seine Sporen auf der Suche nach einem neuen Opfer auf den Waldboden rieseln.
SPIEGEL ONLINE: Pilze sind eine ganz eigene Lebensform, weder Pflanze noch Tier. Warum das?
Hofrichter: Pilze können anders als Pflanzen keine Photosynthese betreiben, sie müssen fressen. Dadurch stehen sie den Tieren sogar näher als den Pflanzen. Anders als Tiere fressen sie allerdings nicht mit Zähnen oder mit dem Mund. Stattdessen zersetzen sie ihre Nahrung mit Enzymen. Mit ihrer Hilfe können sie - je nach Art - annähernd jeden Stoff auf der Welt zerlegen. Forscher haben mittlerweile im Amazonas sogar einen Pilz gefunden, der Polyurethan frisst, einen Kunststoff.
SPIEGEL ONLINE: Diese Eigenschaft machen sich Menschen zunutze, um verschmutzte Böden zu heilen. Wie funktioniert das?
Hofrichter: Wenn zum Beispiel Industrieanlagen vergiftete Böden hinterlassen, bringt man bestimmte Pilze aus, die kreuz und quer durch den Boden wachsen. Die Pilze zerlegen das Gift oder bauen es in ihre Fäden ein. Dadurch wird es so gut gebunden, dass es nicht mehr schaden kann. Nach einem Jahr kann man auf den Böden wieder Salat anbauen oder einen Kinderspielplatz eröffnen. Experten sprechen von Bioremediation. Sogar Radioaktivität können Pilze verwerten, wie Beobachtungen in Tschernobyl gezeigt haben.

Die faszinierenden Wunder einer verborgenen Welt
Gütersloher Verlagshaus; 240 Seiten; 19,99 Euro
SPIEGEL ONLINE: Pilze können sogar dabei helfen, Bäume in der Wüste anzupflanzen. Was macht sich der Mensch dabei zunutze?
Hofrichter: In der Sahelzone gibt es schon heute wenig Wasser, das wird sich durch den Klimawandel wahrscheinlich noch verstärken. Forscher experimentieren dort aber sehr erfolgreich mit dem Jojobabaum, der nahrhafte Früchte trägt. Wenn man seine Wurzel mit bestimmten Pilzen impft, wachsen die Bäume wesentlich schneller. Der Grund: Die Pilze dringen sehr tief in den Boden ein und erreichen so Stellen, an denen noch Wasser zur Verfügung steht. Damit versorgen sie den Baum, der ihnen wiederum Wasser und Vitamine liefert.
SPIEGEL ONLINE: Vitamine?
Hofrichter: Ja, in dieser Hinsicht sind Pilze dem Menschen sehr ähnlich. Sie können ebenfalls keine Vitamine herstellen, brauchen sie aber. Dabei hilft ihnen die Partnerschaft mit Pflanzen. Praktisch alle Bäumen, die Sie sehen, sind mit Pilzen vergesellschaftet. Insgesamt leben weltweit rund 80 bis 90 Prozent aller Pflanzen in einer Symbiose mit Pilzen.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es etwas, das der Mensch von Pilzen lernen kann?
Hofrichter: Ich bin Biologe und mit der Evolutionstheorie, dem Darwinismus, groß geworden. Aber ich glaube, wir verstehen ihn manchmal zu einseitig. In der Vorstellung vieler geht es nur ums Fressen oder Gefressen werden. Die Pilze leben uns vor, dass es auch anders funktioniert. Natürlich gibt es auch bei ihnen Parasiten, Schmarotzer. Das Wesentliche für die meisten Pilze und unsere Welt ist aber die Symbiose, die Kooperation, die Zusammenarbeit.
SPIEGEL ONLINE: Was sind die größten Irrglauben, die über Pilze kursieren?
Hofrichter: Da gibt es eine Menge. Manche sagen zum Beispiel, dass man giftige Pilze daran erkennt, dass sie nicht von Tieren angenagt wurden. Tatsächlich fressen Tiere viele Pilze, auch die giftigsten. Kaninchen zum Beispiel können den Knollenblätterpilz anknabbern, ohne dass er ihnen etwas tut. Für den Menschen hingegen ist er tödlich, deshalb sollte ihn sich jeder ganz genau einprägen.
Ein weiteres Beispiel für Mythen sind alle Aussagen, die das Wachstum der Fruchtkörper mit Mondphasen in Zusammenhang bringen. Das ließ sich wissenschaftlich bisher nie beweisen. Es ist auch Quatsch, in der Morgendämmerung auf Pilzsuche zu gehen. Die Fruchtkörper wachsen über Tage, sie schießen nicht einfach über Nacht aus den Boden - bis auf wenige Ausnahmen. Die Stinkmorchel zum Beispiel wächst tatsächlich innerhalb weniger Stunden.
SPIEGEL ONLINE: Ob man sie sammeln will, ist aber eine andere Frage... Noch ein Letztes: Was sollte jeder beachten, der ins Pilzsammeln einsteigen möchte?
Hofrichter: Wir haben in Europa ungefähr 10.000 Arten von Großpilzen. Die meisten Menschen kennen vielleicht fünf oder zehn davon. Manche gehen aber auch ganz ohne Wissen in den Wald, posten Handyfotos ihrer Pilze in Internetforen und hoffen, dass andere sie bestimmen. Das ist gefährlich. Wer wirklich seriös auf die Suche gehen möchte, sollte sich anfangs mit erfahrenen Sammlern zusammentun und nach und nach dazulernen. Es gibt überall Vereine, die das anbieten. Niemand muss alleine gehen.